Wenn der Antiheld ein unmoralischer Held ist, dann ist ein Anti-Schurke ein moralischer Schurke. – Wie das funktioniert? Das schauen wir uns in diesem Artikel an …
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Zugegeben, der Anti-Schurke ist im englischsprachigen Bereich ein wenig mehr bekannter als im deutschsprachigen. Dort heißt er anti-villain, was sich – wer hätte das gedacht – als Anti-Schurke bzw. Anti-Bösewicht übersetzen lässt.
Doch trotz der verhältnismäßig geringen Bekanntheit des Begriffs ist dieser Archetyp sehr weit verbreitet und schon seit Jahren ziemlich im Trend.
Was steckt also dahinter?
Anti-Schurke: Definition
Wie die Bezeichnung bereits impliziert, ist ein Anti-Schurke ein Schurke, der nicht wirklich böse ist. Wie das konkret funktioniert, kann allerdings variieren:
- Der „Schurke“ kann über gute und heroische Eigenschaften verfügen. Zum Beispiel kann er sich rührend um seine Mitstreiter kümmern und für sie sein Leben aufs Spiel setzen. Und es ist auch möglich, dass er selbst seinen Gegner, nämlich den Helden, trotz Meinungsverschiedenheiten mit Respekt behandelt.
- Viele Anti-Schurken verfolgen auch äußerst noble Absichten, beispielweise den Weltfrieden. Bloß wählen sie dabei das Prinzip: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Sie gehen über Leichen, wollen die ganze Welt versklaven oder hypnotisieren … Aber eigentlich meinen sie es nur gut.
- Oft ist der Anti-Schurke auch erst durch widrige, wenn nicht sogar traumatische Umstände zu dem geworden, was er ist. Er hat seine Familie verloren, die Gesellschaft war gemein zu ihm oder er wurde durch böse Einflüsse verdorben. Er ist tief in seinem Inneren ein gutes Geschöpf und wollte nie ein Monster sein.
Diese Variationen können einzeln auftreten oder in Kombination. Anti-Schurken sind da sehr vielfältig. Vom potentiellen Retter der Welt bis hin zum manchmal heroischen Egoisten ist alles vertreten.
Wichtig ist, dass er weder eindeutig böse noch eindeutig gut ist. Seine Moral ist „grau“.
Damit ist der Anti-Schurke gewissermaßen der weniger bekannte Zwilling des Antihelden und manchmal sind die beiden auch nicht wirklich voneinander abgrenzbar.
Abgrenzung: Held, Antiheld, Schurke, Anti-Schurke
Man kann nur grob sagen:
Während der Antiheld eher auf der Seite des Protagonisten (Helden) steht oder selbst der Protagonist ist, steht der Anti-Schurke eher auf der Seite des Antagonisten (Schurken) oder ist selbst der Antagonist.
Und wenn wir nach der Weisheit gehen, dass der Schurke nur der Held der Gegenseite ist, dann ist der Anti-Schurke logischerweise der Antiheld der Gegenseite.
Doch so simpel diese Abgrenzung auch klingt: Oft kann man nicht genau sagen, ob eine Figur eher Antiheld oder Anti-Schurke ist. Das mag auch der Grund sein, warum viele Anti-Schurken allgemein als Antihelden bezeichnet werden. Ich mache das teilweise auch. Denn bei dieser Abgrenzung kommt es meistens wirklich nur darauf an, aus wessen Blickwinkel man das Ganze betrachtet.
Anti-Schurken: Beispiele
Um die Definition etwas greifbarer zu machen, schauen wir uns nun einige Beispiele an:
- Inspektor Javert in Die Elenden von Victor Hugo ist ein klassisches Paradebeispiel. Er steht streng auf der Seite des Gesetzes und hasst alles, was mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Als er am Ende des Romans einsieht, dass Gesetz und Moral eben nicht dasselbe sind, gerät sein Weltbild ins Wanken und er begeht Selbstmord.
- Im Manga und Anime Naruto treibt eine kriminelle Organisation namens Akatsuki ihr Unwesen. Gegründet und aufgebaut wurde sie von kriegstraumatisierten Ninja, die nun die Weltherrschaft anstreben, damit es keine Kriege mehr gibt. Dabei arbeiten sie aber mit eindeutig „bösen“ Kriminellen zusammen und starten letztendlich den Vierten Ninjaweltkrieg.
- Gollum aus Der Herr der Ringe ist eine mitleiderregende Kreatur, die einst ein Hobbit war, aber durch den Einen Ring verdorben wurde. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass er eine gespaltene Persönlichkeit hat – und seine „gute“ Teilpersönlichkeit ist gegenüber dem Helden Frodo eine Zeit lang sehr positiv eingestellt und versucht zu helfen.
Besonders spannend wird es, wenn der Anti-Schurke nur eine Phase in der Entwicklung der Figur ist:
- Ein solches Beispiel ist Darth Vader aus dem Star Wars-Franchise. In Episode I‑II Ist er noch ein Held. In Episode III mutiert er allmählich zum Antihelden, während er zunehmend verzweifelt, von Palpatine manipuliert und allmählich auf die dunkle Seite gelockt wird.
In Episode IV-VI ist er schließlich ein Anti-Schurke: Er beteiligt sich aktiv an den Verbrechen des Imperiums, aber wie sich in Episode VI herausstellt, ist tatsächlich auch noch etwas Gutes in ihm. Denn er opfert sich selbst, um das Leben des Helden zu retten – und rettet dabei die ganze Galaxie mit dazu. - Eine umgekehrte Entwicklung macht Zuko aus Avatar – Der Herr der Elemente. In Staffel 1 ist er ein Anti-Schurke, wie er im Buche steht: Er verfolgt den Helden und seine Freunde, brennt Dörfer nieder und ist sogar gegenüber seinen Männern und seinem Onkel ziemlich unfreundlich. Gleichzeitig erfahren wir jedoch von der Grausamkeit seines Vaters, dass den Helden einzufangen seine einzige Hoffnung ist, wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen, nachdem er für einen spontanen Ausdruck von Menschenliebe brutal bestraft wurde, dass er diese Hoffnung durchaus hintenanstellt, wenn es um das Wohlergehen seiner Männer und seines Onkels geht, und dass er sogar gegenüber seinem Rivalen Zhao Mitgefühl zeigt, obwohl dieser ihn wiederholt gedemütigt und sogar einen Mordanschlag auf ihn organisiert hat.
In Staffel 2 ändern sich Zukos Umstände und er kommt mit der Heldentruppe kaum noch in Kontakt. Stattdessen kämpft er um sein Überleben, lernt andere Weltbilder kennen und schwankt zwischen „Gut“ und „Böse“. Teilweise ist er dabei der Protagonist seiner eigenen Parallelhandlung. Das macht ihn zum Antihelden.
In Staffel 3 schließlich entwickelt er sich vom Antihelden zum richtigen Helden, als er sich seinem Vater stellt, sich der Heldentruppe anschließt und sich heroisch opfert, um das Leben einer Freundin zu retten.
Chancen bei Anti-Schurken
Wie Du Dir sicherlich bereits denken kannst, liegt der Charme bei den Anti-Schurken – ebenso wie bei den Antihelden – in der moralischen Ambiguität:
Anti-Schurken fordern traditionelle Vorstellungen von „Gut“ und „Böse“ heraus und machen auf die Schattenseiten und die moralischen Widersprüche unserer Welt aufmerksam.
Dabei schwingt immer wieder die Botschaft mit, dass auch die Perspektive der Feinde durchaus auch eine Beachtung verdient.
Vor allem werden Anti-Schurken aber interessant, wenn sie sich zeitweise mit dem Helden verbünden.
- Ein Beispiel dafür ist der bereits erwähnte Zuko. Als der Held Aang von Zhao gefangengenommen wird, ist das gegen Zukos Interessen: Denn Zuko will selbst derjenige sein, der Aang einfängt. Deswegen befreit er Aang aus seiner Gefangenschaft und die beiden arbeiten hervorragend zusammen, um aus Zhaos Festung zu entkommen.
- Ein weniger eigennütziges Beispiel ist Dr. Benjamin Buxbaum in Darkwing Duck. Abgesehen davon, dass er nicht freiwillig zu einem Hybriden aus Ente und Pflanze mutiert ist und viele seiner Verbrechen im Prinzip einfach nur Versuche sind, seine Einsamkeit zu beenden, verbündet er sich in einer Folge mit dem Helden Darkwing Duck, um die Erde vor außerirdischen Kohlkopf-Monstern zu beschützen.
Und weil Anti-Schurken ja nicht ganz böse sind und meistens gute Gründe haben, warum sie auf der „bösen“ Seite sind – und vor allem, wenn sie so gut mit dem Helden zusammenarbeiten können, beginnen die Leser bzw. Zuschauer oft, mit dem Anti-Schurken zu sympathisieren. Dabei entwickeln sie häufig den Wunsch nach einem Erlösungsarc, in dem der Anti-Schurke auf die Seite der „Guten“ wechselt. Und wenn er das letztendlich tut und es gut umgesetzt ist, dann empfinden viele dieses Ereignis als äußerst kathartisch.
Doch selbst wenn der Anti-Schurke ein Feind des Helden bleibt, hat er viel Potential: Weil er oft im Grunde dasselbe Ziel verfolgt wie der Held und sich dabei nur ihre Mittel unterscheiden, kann er das Weltbild des Helden herausfordern und/oder als Kontrastfigur fungieren – bzw. als Bild dessen, was der Held unter anderen Umständen hätte werden können oder immer noch werden könnte. Wenn gut gehandhabt, verleiht es einer Geschichte Komplexität und Tiefe.
Risiken bei Anti-Schurken
Doch hier lauert auch bereits eine Gefahr: Denn alles, was ich über die Möglichkeiten des Anti-Schurken aufgezählt habe, setzt geschickte Handhabung voraus. Wenn man hingegen seine Geschichte unüberlegt mit „grauer Moral“, tragischen Hintergrundgeschichten und dunklen Kontrastfiguren vollstopft, ohne dass das alles irgendwie zusammenhängt und eine nennenswerte Aussage hat, dann wirkt das schnell ziemlich „pseudo-intellektuell“.
Ich denke, das ist auch der Grund für die – wie ich finde – wachsende Frustration über Anti-Schurken. Und zugegeben: Oft ist diese Frustration auch durchaus berechtigt – wenn die tragische Hintergrundgeschichte kitschig ist, die Motivation schlecht durchdacht ist und keinen logischen Sinn ergibt und wenn die einzelnen Teile seiner Persönlichkeit nicht zusammenpassen.
Und natürlich kann man hier auch ordentlich in die Klischeefalle tappen, beispielsweise wenn der Anti-Schurke den Helden explizit darauf hinweist, dass sie ja gar nicht so unterschiedlich sind. Wenn man solche typischen Szenen immer wieder vor sich hat, wirken sie irgendwann hohl und ausgelutscht.
Zudem beobachte ich eine durchaus berechtigte Sehnsucht nach den klassischen abgrundtief bösen Schurken, wie es sie heutzutage nur noch selten gibt. Wir alle sehnen uns ja hin und wieder nach Abwechslung – und wenn die Welt von einem Typus überrannt wird, sympathisieren wir schnell mit Abweichungen von dieser Regel.
Schlusswort
Auch wenn der Begriff Anti-Schurke nicht sehr verbreitet ist, ist der Archetyp dahinter nicht umsonst sehr beliebt. Denn Anti-Schurken sind sehr vielfältig und bieten viel Spielraum für unkonventionelle Geschichten. Dabei gelten teilweise ähnliche Prinzipien wie beim Antihelden.
Aber wie alle anderen Archetypen auch erfordert der Anti-Schurke ein Mindestmaß an Fingerspitzengefühl. Er muss zur Geschichte und ihrer Aussage passen und gut herausgearbeitet sein. Denn nur dann kann er sein Potential vollständig entfalten und den Leser begeistern.
Sehr schön erklärt und dargestellt was einen Anti-Schurken ausmacht.
Auch die Beispiele fand ich sehr schön, da sie das ganze noch etwas mehr verdeutlichen. Unter anderm Zuko, weil der recht schnell zumindest Verständnis bekommen kann zumindest vom Zuschauer.
Aber was auch gut ist war das du die Probleme bei der Darstellung angesprochen hast. Das ist leider etwas was zumindest viele Hobby Autoren nicht immer hinbekommen.
Dankeschön
Vielen herzlichen Dank fürs Lob! 😊