Der Feminismus hat im Lauf der letzten Jahrzehnte einige sehr positive Veränderungen bei der Darstellung von Frauen in Geschichten hervorgebracht. Allerdings blieben die Männer dabei auf der Strecke: Wir haben noch immer stoische Testosteron-Geysire als Helden und Vorbilder für Jungen und Männer. Da diese Macho-Vorbilder erheblichen Schaden anrichten, suchen wir in diesem Video nach alternativen fiktiven Helden.
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In einem früheren Artikel haben wir über die Notwendigkeit „starker Frauen“ in Geschichten gesprochen und darüber, was eine gute „starke Frau“ ausmacht. Allerdings sind nicht nur weibliche Figuren oft verbesserungswürdig.
Heute geht es also um männliche Figuren und die Notwendigkeit von neuen Männlichkeitsvorbildern in unserer heutigen Welt.
Ein kleines Vorwort
Ich beschäftige mich schon seit Jahren mit dem Innenleben von Männern – einerseits als Autorin, die durchaus auch über männliche Figuren schreibt, aber auch als Frau, die sich allmählich fragt, ob die echten Männer tatsächlich ausgestorben sind (und in diesem Zusammenhang natürlich auch, was einen echten Mann überhaupt ausmacht).
Die Grundlage meiner Überlegungen bilden zahlreiche Artikel, Romane und Sachbücher, Dokumentationsfilme, Beobachtung von Männern und Gespräche mit Männern … Aber vor allem möchte ich das Buch Self-Made Man von Norah Vincent herausstellen. Norah hat sich 18 Monate lang als Mann verkleidet, unterschiedliche Bereiche des „männlichen Lebens“ infiltriert und ihre Erfahrungen in diesem Buch niedergeschrieben. Bei meinen Recherchen war dieses Buch ein ganz besonderer Meilenstein.
Außerdem bedanke ich mich ganz herzlich bei Kai Everstein. Er hat mich auf LovelyBooks zu seiner Leserunde eingeladen und ich habe darauf sein Buch Für dich bricht meine Welt zusammen inspiziert. Dabei bin ich auf seine Behauptung gestoßen, dass es „wenige gute, gefühlvolle Bücher für Jungs und Männer gibt“. Also habe ich ihn während der Vorbereitungen für dieses Video mit Fragen gelöchert und einige meiner bisherigen Erkenntnisse und Thesen auf ihn gehetzt. Der Austausch mit ihm hat mir sehr geholfen und ohne seine Hilfe gäbe es diesen Artikel vielleicht gar nicht. Also, Kai, ein großes, liebes Dankeschön an dich!
Geschlecht und Klischees: Absurde Dichotomien
Es wurde schon längst festgesellt, dass fiktive Frauenfiguren oft einer absurden Dichotomie unterworfen sind:
Denn in „klassischeren“ Geschichten sind Frauen oft entweder
- Heilige:
zarte, unschuldige Feenprinzessinnen mit reinem Herzen, die passiv auf ihren Prinzen warten, der mit seiner unsterblichen Liebe all ihre Probleme löst.
Oder sie sind
- Huren:
sind zwar selbstbewusst und wissen was sie wollen, aber gleichzeitig verkörpern sie alle Eigenschaften, die gemeinhin als „böse“ gelten.
Was allerdings oft übersehen wird, ist, dass es auch für männliche Figuren eine absurde Dichotomie gibt:
Auf einen Seite ist da nämlich
- der „klassische“ Held:
ein von allen bewunderter und angehimmelter Drachentöter, dem alles gelingt, was er sich vornimmt. Er ist der Auserwählte, der die Welt rettet, er heiratet die schöne Prinzessin, er kommt an Macht und Reichtum und erreicht das Übermenschliche.
Und auf der anderen Seite haben wir den
- Loser:
Er ist schwächer, ängstlicher und weniger erfolgreich als der Held und bestenfalls ist er der „Sidekick“ des Helden, der nur da ist, um den Helden zu bewundern. Eventuell ist er aber auch ein Comic Relief / Witzfigur oder schlimmstenfalls eine erbärmliche Kreatur.
Diese Dichotomie ist im Übrigen auch moralisch flexibel, denn man trifft sie genauso auch bei den „Bösen“: An der Spitze steht ein reicher, mächtiger Overlord und er befehligt eine Armee von Losern.
Der Schaden von Geschlechterklischees
Natürlich sind diese Dichotomien von Geschichte zu Geschichte unterschiedlich stark ausgeprägt, aber das ändert nichts daran, dass sie zu Geschlechterbildern beitragen die erheblichen Schaden anrichten.
Und zwar: Wir sind ja bekanntlich alle von Hormonen gesteuert. Wir alle neigen – mal stärker, mal schwächer, abhängig vom Individuum – zu geschlechtstypischen Verhaltensweisen, durch die sich auch ziemliche Schwächen auftun, die uns im Leben behindern.
- Frauen zum Beispiel leiden oft an Selbstunterschätzung. Sie kehren ihr Licht unter den Scheffel und haben Angst vor Risiken. Das ist einer der vielen Gründe, warum Frauen oft weniger erfolgreich sind im Beruf und mit einem durchschnittlich kleineren Gehalt leben müssen.
- Männer hingegen können oft schlecht mit ihren eigenen Emotionen und den Emotionen anderer Menschen umgehen. Das wiederum kann ziemlich negative Folgen für ihr psychisches Wohlbefinden und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen haben.
Wenn wir uns anschauen, mit welchen Helden wir so groß werden, kommt das Gefühl auf, dass manche von ihnen unsere geschlechtsspezifischen Probleme nur noch größer machen.
Außerdem: Wenn man als Individuum etwas stärker von den typischen Verhaltensweisen des eigenen Geschlechts abweicht, kommt man sich schnell ziemlich komisch vor, und das wiederum nagt am Selbstbewusstsein.
Ein Gegengewicht zu Geschlechterklischees
Was wir also brauchen, ist ein Gegengewicht zu den traditionellen Rollenvorstellungen. Und Geschichten (Buch, Film, Fernsehserie, Graphic Novel, Videospiel …) sind ein wesentlicher Teil einer jeden Kultur und damit ein wichtiger Bereich, in dem dieses Gegengengewicht untergebracht werden kann und soll.
Nun hatten wir bereits ein paar Wellen des Feminismus und mittlerweile gibt es für Frauen so einige tolle fiktive Vorbilder:
Das wären zum Beispiel Mulan, Hermine Granger, Katniss Everdeen …
Aber bei den Männern … sieht es im Vergleich dazu eher mau aus.
Zwischen „Macho“ und „Weichei“
Durch den Feminismus wurde das „klassische“ Männerideal zwar abgeschafft, aber es gibt immer noch keine Alternative:
Männer sind nicht mehr die „Ernährer“ und dürfen keine „Machos“ mehr sein, aber sie werden auch verurteilt, wenn sie als zarte „Sensibelchen“ rüberkommen.
Das schreibt auch Norah Vincent, die sich ja, wie bereits erwähnt, 18 Monate lang als Mann verkleidet hat:
Sie hat beobachtet, dass Männer unter einem erheblichen Druck leiden, sich ständig als Männer zu beweisen. Das bedeutet unter anderem, dass sie trotz aller Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nach wie vor keine „Schwäche“ (d.h. auch Emotionen) zeigen dürfen. Aber der Witz ist:
Männer sind nun mal Menschen und haben daher ein ganz menschliches Bedürfnis nach Nähe und Emotionen.
Doch die fiktiven Vorbilder sind nach wie vor „klassische“ Helden, cool, stoisch und unerschütterlich. Sie haben Macht (dazu zählen auch körperliche Stärke und Waffen), sie haben oder kriegen viel Geld und ein hübsches Weibchen gleich mit dazu.
Und weil diese Macho-Helden eigentlich längst veraltet sind, stellt sich die Frage:
Welche Helden würden Jungen und Männern (und damit auch der ganzen Gesellschaft) helfen?
Sinnvollere fiktive Helden für Jungen und Männer
Nach meinen ganzen Recherchen und Gesprächen fallen mir folgende Eigenschaften ein, die ein zeitgemäßer Held haben könnte:
- Empathie
- die Fähigkeit, zu den eigenen Gefühlen stehen
- keine Verkörperung eines unerreichbaren Ideals
(damit keine Minderwertigkeitskomplexe in kleine Jungen gepflanzt werden) - mehr gewöhnliche „Normalos“ als Helden:
Männer, die im realen Leben tatsächlich existieren und mit denen man sich identifizieren kann
Nun, diese Ideen klingen vielleicht ganz nett, aber so einfach ist es leider nicht …
Denn es gibt eigentlich gar nicht mal so wenige Helden, die gute Identifikationsfiguren abgeben müssten:
- Samweis Gamdschie:
der treue Gefährte von Frodo Beutlin in Der Herr der Ringe, eine treue Seele, die (wie jeder andere Hobbit auch) gutes Essen liebt und eine Reise nach Mordor und zurück braucht, um seiner Angebeteten endlich den Hof zu machen. - Newt Scamander:
der Held von Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind mit seiner Empathie, Liebe zu magischen Kreaturen und seiner doch sehr auffälligen Introvertiertheit. - Forrest Gump:
Ja, er hat ein mentales Handicap, weswegen man sich mit ihm auf den ersten Blick eher nicht identifizieren möchte. Aber man kann es auch so sehen: Wir alle haben in irgendeinem Bereich des Lebens ein Handicap, wir alle sind in etwas nicht wirklich gut, und Figuren wie Forrest Gump erinnern uns daran, dass wir uns davon nicht runterziehen lassen und immer nach vorne blicken sollen. - ganz „gewöhnliche“ Männer:
Die Protagonisten meines Lieblingsautors Erich Maria Remarque zum Beispiel sind häufig zwar recht melancholische Naturen, aber ansonsten nicht wirklich auffällig. Trotzdem sind Remarques Bücher weltklasse.
Das waren nur einige wenige Beispiele, aber ich bin sicher, dass Dir noch viele andere einfallen. Solche Figuren sind tatsächlich keine allzu große Seltenheit. Das Problem ist eher:
Ich zumindest habe das Gefühl, dass es eher Frauen sind, die solche Figuren toll finden – oder zumindest offen zugeben, dass sie sie toll finden. Wir wollen aber die Männerwelt erreichen!
Ein Teufelskreis der Männlichkeit
Es ist eine Tatsache, die wir, wie ich finde, erstmal akzeptieren müssen:
Jungen haben männliche Hormone und neigen anscheinend von Natur aus, sich für besonders „testosteronige“ Helden zu begeistern.
Manche mehr und manche weniger, versteht sich, aber wir reden hier vom Durchschnitt.
Das tut natürlich nichts gegen die unter Männern ja durchaus verbreitete Angst, nicht Mann genug zu sein. Und diese Angst wiederum führt zur Kompensationsversuchen durch Machoverhalten, zum Weglaufen vor Problemen und anderen äußerst kontraproduktiven Tendenzen.
Aber Jungen wählen nun mal solche Vorbilder und möglicherweise hängt das mit ihrem natürlichen Entwicklungsprozess zusammen:
Kinder haben vor allem in den ersten Lebensjahren – aber natürlich auch darüber hinaus – eine ganz besondere Bindung zu einem weiblichem Wesen, nämlich der Mutter. Und während die Mädchen das Weibliche sozusagen einfach behalten, müssen Jungen sich vom Weiblichen erst noch abgrenzen.
Was wäre da also die Lösung? Coole Testosteron-Helden, die das Weibliche in sich akzeptieren und Gefühle offen äußern?
Schlechte Aussichten: „Starke Frauen“ sind der Mainstream
Nun, dazu gibt es eine schlechte Nachricht, denn der Mainstream in unserer heutigen Welt sind mittlerweile selbstbewusste Frauenfiguren:
Jodie Archer und Matthew L. Jockers haben einen Computer 5000 Bestseller und Nicht-Bestseller auswerten lassen. Und anhand der Ergebnisse empfehlen sie unter anderem tatsächlich weibliche Hauptfiguren, die selbstbewusst ihre Ziele verfolgen, um die Chancen auf einen Bestseller zu steigern.
Genauer beschrieben in: Der Bestseller-Code: Was uns ein bahnbrechender Algorithmus über Bücher, Storys und das Lesen verrät.
Maskuline Helden, die mit ihren Gefühlen offen umgehen, existieren zwar durchaus, aber ich persönlich sehe sie eher in manchen Animes und Mangas für Mädchen und in einigen Frauenfilmen. Und genau das ist das Problem: Die Geschichten dahinter sind für ein weibliches Publikum gedacht.
Gute moderne Helden gibt es!
Aber ist die Lage nun wirklich hoffnungslos? – Nein, nicht ganz. Denn gute moderne Helden gibt es! … Wenn auch nur wenige.
Wer mir persönlich einfällt, sind die Elric-Brüder Edward und Alphonse aus Fullmetal Alchemist:
- Beide sind talentierte Alchemiker (d.h. sie können Dinge verwandeln und haben damit eine Art „Superkraft“).
- Sie sind Teil einer gewalttätigen Welt und kämpfen mit, denn bestimmte Übel gehören eben bekämpft.
- Allerdings sind beide sehr empathisch und folgen streng dem Prinzip, dass sie ihre Gegner nicht töten. Dabei muss man nochmal betonen, dass ihre Welt eine wirklich sehr gewalttätige ist mit Massakern, Genozid und alchemischen Experimenten an Menschen. „Klassische“ Serienmörder gehören da noch zu den harmloseren Gestalten, die die Brüder trotz allem als lebende Wesen respektieren.
- Man könnte zwar noch differenzieren, dass Edward eindeutig der testosteronigere ist, während Alphonse als die friedliebende Hälfte des Duos am liebsten kleine Kätzchen adoptieren würde. Aber das ändert nichts daran, dass beide es schaffen, selbst den grausamsten Gestalten mit Mitgefühl zu begegnen.
- Tatsächlich spielen Gefühle (und tatsächlich auch das Zulassen ihrer) eine sehr zentrale Rolle in der Geschichte. Sogar die Beziehung zwischen den Brüdern ist von komplexen Gefühlen geprägt.
Tja. – Und das Ergebnis des Ganzen? Nun, Fullmetal Alchemist ist bei beiden Geschlechtern sehr beliebt. Man trifft diesen Titel bemerkenswert häufig in Listen á la Die besten Mangas/Animes aller Zeiten und das Franchise wurde mehrfach ausgezeichnet.
Frage an Dich und Fazit
Fallen Dir noch mehr solche Helden ein?
Wenn ja, dann stelle sie doch unten im Kommentarbereich vor! Ich denke, ich bin nicht die einzige, die gerne noch mehr solcher Helden kennenlernen würde.
Denn die Welt braucht sehr dringend männliche Helden, die zwar im Einklang mit
„männlichen Hormonen“ stehen, aber Jungen und Männern gleichzeitig zeigen:
Ein echter Mann ist vor allem jemand,
-
der niemandem beweisen muss, dass er ein Mann ist,
-
der seine weibliche Seite (die jeder Mann hat) akzeptiert, und
-
der selbstbewusst zu seinen Gefühlen steht und Empathie zeigt.