Fre­quenz: Wie­der­ho­lungen in der Erzäh­lung

Fre­quenz: Wie­der­ho­lungen in der Erzäh­lung

Manche Ereig­nisse in einer Geschichte wie­der­holen sich immer wieder: das Klin­geln des Weckers, bestimmte Begeg­nungen, bestimmte Hand­lungen … Und manche Ereig­nisse wie­der­holen sich nicht, aber der Erzähler reitet trotzdem immer wieder auf ihnen herum. Um diese Wie­der­ho­lungen zu ana­ly­sieren, benutzt Genette den Begriff der Fre­quenz. In diesem Artikel fasse ich diese Kate­gorie von Genettes Erzähl­theorie zusammen.

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Jeden Tag geht die Sonne auf. Mit größter Wahr­schein­lich­keit auch in Deiner Geschichte. Doch schreibst Du jeden Morgen, den Deine Figuren erleben, dass die Sonne auf­geht? – Ver­mut­lich nicht.

Und damit wären wir bei der dritten und letzten Kate­gorie von Genettes Betrach­tung der Erzähl­zeit in Geschichten: der Fre­quenz.

Wie oft findet ein Ereignis statt? Wie oft wird es in der Erzäh­lung erwähnt? Und wie­der­holen sich Ereig­nisse eigent­lich wirk­lich?

Das alles in diesem Artikel.
(Aber natür­lich „nur“ zusam­men­ge­fasst. In aller Aus­führ­lich­keit gibt es das Modell bei Genette selbst. Unter diesem Link kannst Du sein Buch „Die Erzäh­lung“ bei Amazon bestellen.)

Wie­der­ho­lungen und Wie­der­ho­lungs­be­zie­hungen

Wie in der Ein­lei­tung bereits ange­deutet, gibt es in einer Erzäh­lung grund­sätz­lich zwei Dinge, wie sich wie­der­holen können:

  • Ereig­nisse
  • Aus­sagen bzw. Erwäh­nungen von Ereig­nissen in der Erzäh­lung

Und wenn Du bereits an dieser Stelle ein­wenden möch­test, dass es nichts gibt, was sich immer auf exakt die­selbe Art und Weise wie­der­holt, – dann hast Du völlig recht.

Zwar geht jeden Tag die Sonne auf, doch jeder Son­nen­auf­gang ist anders:

  • Das Wetter ist immer ein biss­chen anders,
  • Deine Gedanken und Gefühle sind ein biss­chen anders
  • und auch Dein Hund ent­deckt beim mor­gend­li­chen Gas­si­gehen jedes Mal ein anderes Ekel­ding, das er heim­lich fressen will.

Wenn wir also sagen, dass Ereig­nisse sich wie­der­holen, dann spre­chen wir in der Regel nicht von exakt iden­ti­schen Ereig­nissen, son­dern von Ereig­nissen, die sich sehr ähn­lich sind:

Jeden Morgen geht die Sonne auf, jeden Morgen gehst Du mit Deinem Hund Gassi und jeden Morgen findet er etwas Ekel­haftes.

Nun haben wir also Ereig­nisse und Aus­sagen, die sich mehr oder weniger wie­der­holen können. Und weil die Aus­sagen ja von den Ereig­nissen han­deln, treten diese beiden Dinge mit­ein­ander in Bezie­hung. Das kann auf vier Weisen geschehen:

Sin­gu­la­tive Erzäh­lung (I)

Ein Ereignis findet einmal statt und wird einmal erwähnt.

„Ges­tern bin ich früh schlafen gegangen.“

Das „Ich“ ist an einem Abend früh schlafen gegangen (1 Ereignis) und erzählt davon auch nur ein Mal (1 Aus­sage).

Das ist bei Weitem der häu­figste Typ.

Sin­gu­la­tive Erzäh­lung (II)

Ein Ereignis hat sich meh­rere Male zuge­tragen und wird genauso oft erwähnt.

„Montag bin ich früh schlafen gegangen, Dienstag bin ich früh schlafen gegangen und Mitt­woch bin ich auch früh schlafen gegangen.“

Das „Ich“ ist dreimal früh schlafen gegangen (3 Ereig­nisse) und erwähnt es auch dreimal (3 Aus­sagen).

Bei der sin­gu­la­tiven Erzäh­lung geht es also um die gleiche Anzahl von sehr ähn­li­chen Ereig­nissen und ihrer Erwäh­nung in der Erzäh­lung.

Repe­ti­tive Erzäh­lung

Ein Ereignis hat nur einmal statt­ge­funden, wird aber mehr­mals erwähnt.

„Ges­tern bin ich früh schlafen gegangen. Des­wegen bin ich heute aus­ge­schlafen. Ges­tern Abend hat mich aber auch meine Mutter ange­rufen. Aber weil ich ja früh schlafen gegangen bin, habe ich es nicht mehr gehört.“

Das „Ich“ ist nur einmal früh schlafen gegangen (1 Ereignis), aber es wird zweimal erwähnt (2 Aus­sagen).

Die Mög­lich­keiten sind hier sehr viel­fältig:

  • Zum Bei­spiel kann ein Ereignis aus meh­reren ver­schie­denen Per­spek­tiven erzählt werden:

In einem Kapitel erfahren wir, wie Fritz­chen das erste Date erlebt hat; im nächsten berichtet Lies­chen von dem­selben Ereignis aus ihrer Per­spek­tive.

  • Ein anderes Bei­spiel sind bedeu­tende Ereig­nisse aus der Ver­gan­gen­heit, die immer wieder auf­ge­griffen werden:

In der Ver­gan­gen­heit hat der Dunkle Lord das Keks­reich ange­griffen. In der Gegen­wart treffen die Helden immer wieder auf Spuren und Erzäh­lungen, die auf dieses Ereignis ver­weisen.

Ite­ra­tive Erzäh­lung

Ein Ereignis hat mehr­mals statt­ge­funden, wird aber nur einmal erwähnt.

„An allen Tagen dieser Woche bin ich früh schlafen gegangen.“

Das „Ich“ ist sie­benmal früh schlafen gegangen (7 Ereig­nisse), aber es fasst all diese Ereig­nisse in nur einem ein­zigen Satz zusammen (1 Aus­sage).

Die klas­si­sche Funk­tion der ite­ra­tiven Erzäh­lung ähnelt der einer Beschrei­bung. Der Erzähler fasst zum Bei­spiel zusammen, was Fritz­chen jeden Tag tut. Damit ist die ite­ra­tive Erzäh­lung meis­tens – aber nicht immer – der sin­gu­la­tiven Erzäh­lung unter­ge­ordnet: Die sich wie­der­ho­lenden Ereig­nisse bilden den Hin­ter­grund bzw. die Kulisse für die Ereig­nisse, die nur einmal statt­finden und damit von der Norm abwei­chen.

Wir erin­nern uns jedoch: Sich wie­der­ho­lende Ereig­nisse sind nie­mals kom­plett iden­tisch. Das wird beson­ders wichtig, wenn man von Ereig­nissen liest, die regel­mäßig statt­finden, in der Erzäh­lung aber mit so vielen Details aus­ge­schmückt sind, dass das schon wieder unglaub­würdig ist. Zum Bei­spiel:

Fritz­chen und Lies­chen unter­nehmen jeden Don­ners­tag­abend etwas mit­ein­ander. Dabei gibt der Erzähler in einer Szene sehr detail­liert ihr Gespräch wieder.

Natür­lich führen Fritz­chen und Lies­chen nicht jeden Don­ners­tag­abend exakt das­selbe Gespräch. Viel­mehr steht diese eine Szene stell­ver­tre­tend für alle Gespräche zwi­schen den beiden: als her­aus­ge­grif­fenes Bei­spiel aus einer Reihe von ähn­li­chen Gesprä­chen. Genette bezeichnet dieses Prä­nomen als Pseudo-Ite­rativ.

Fein­heiten des Ite­ra­tivs

Nun kann man das Ite­rativ aber noch genauer unter die Lupe nehmen. Und zwar unter den Gesichts­punkten der Deter­mi­na­tion, der Spe­zi­fi­ka­tion und der Exten­sion.

Deter­mi­na­tion

Bei der Deter­mi­na­tion geht es um dia­chro­ni­sche Grenzen. Zu Deutsch: inner­halb wel­chen Zeit­raums sich ein Ereignis wie­der­holt.

  • Diese Wie­der­ho­lung kann endlos sein wie die Sonne, die jeden Tag auf­geht; oder nur eine sehr unge­naue Zeit­an­gabe haben, wie bei­spiel­weise: „von einem gewissen Moment an“.
  • Genauso ist aber auch eine genaue Zeit­an­gabe mög­lich wie zum Bei­spiel ein bestimmtes Datum, eine bestimmte Jah­res­zeit oder auch ein bestimmtes Ereignis, das einen Wie­der­ho­lungs­rhythmus in Gang setzt oder beendet. Ein Bei­spiel wäre, wenn Fritz­chen und Lies­chen sich seit ihrem ersten Kuss jeden Don­ners­tag­abend treffen.

Und natür­lich können diese Zeit­räume der Wie­der­ho­lung inein­ander ver­schach­telt sein. So beginnt für Fritz­chen und Lies­chen zum Bei­spiel ein neuer Alltag, als die beiden zusam­men­ziehen. Inner­halb dieses großen Zeit­raums des Zusam­men­le­bens gibt es dann ein­zelne Ein­schnitte, die wich­tige Ände­rungen in ihren Alltag bringen. So bringt bei­spiels­weise die Geburt ihres Kindes einen neuen All­tags­rhythmus mit sich.

Spe­zi­fi­ka­tion

Dieser Rhythmus fällt unter den Punkt „Spe­zi­fi­ka­tion“. Hier fragen wir danach, in wel­chem Abstand sich ein Ereignis wie­der­holt.

Auch hier kann die Angabe sowohl bestimmt als auch unbe­stimmt sein. Der Erzähler kann „jeden Don­nerstag“, „jeden zweiten Freitag“ oder „jede halbe Stunde“ sagen – oder auch ganz schwam­mige Wörter wie „manchmal“, „oft“ oder „selten“ benutzen.

Mög­lich sind aber auch sehr spe­zi­fi­sche Angaben, die zum Bei­spiel auch an bestimmte Bedin­gungen geknüpft sind:

„Wenn es nicht reg­nete, saßen Fritz­chen und Lies­chen im Juni jeden Don­ners­tag­abend auf der Ter­rasse.“

Exten­sion

Wichtig ist beim Ite­rativ auch die Exten­sion. Dabei han­delt es sich um den Umfang bzw. die Dauer des Ereig­nisses. So können zum Bei­spiel mit dem Wort „Tag“ alle 24 Stunden gemeint sein oder auch die Zeit vom Auf­stehen bis zum Schla­fen­gehen.

Beson­ders spürbar wird die Exten­sion beim Ver­gleich von ganz kurzen und län­geren Ereig­nissen. So ist das Klin­geln des Weckers tat­säch­lich jeden Morgen fast iden­tisch. Beschreibt man hin­gegen Fritz­chens All­tags­rou­tine, muss man sie auf das Wesent­liche her­un­ter­bre­chen: Denn die ein­zelnen Ereig­nisse seines All­tags sind, wie bereits bespro­chen, nie­mals wirk­lich iden­tisch. – Ja, er scrollt bei seinem Mor­gen­kaffe immer durch seine Social Media Feeds. Aber ihm werden jeden Morgen andere Posts ange­zeigt.

Fre­quenz in der Praxis

Natür­lich ist die Fre­quenz, wie jede andere Ana­ly­se­ka­te­gorie von Genette, vor allem ein Werk­zeug. Wie immer gilt natür­lich:

In die Erzäh­lung gehört nur das, was wichtig ist.

Wenn ein Autor sich bei den Ereig­nissen in seiner Geschichte für bestimmte Fre­quenzen ent­scheidet, dann hat das einen Grund. Ebenso sollte Deine Ent­schei­dung für oder gegen eine Fre­quenz einen Grund haben.

Die sin­gu­la­tive Erzäh­lung mag der häu­figste und wohl auch ein­fachste Typ sein. Doch manchmal sind die repe­ti­tive Erzäh­lung oder die ite­ra­tive Erzäh­lung die geschick­tere Wahl:

  • So können repe­ti­tive Erzäh­lungen zum Bei­spiel neue Aspekte von wich­tigen Ereig­nissen beinhalten. Durch die wie­der­holte Erwäh­nung wird außerdem auch die Bedeu­tung dieser Ereig­nisse unter­stri­chen.
  • Die Gefahr bei repe­ti­tiven Ereig­nissen ist aller­dings, dass sie – nun ja – schnell repe­titiv werden können. Kein Leser möchte immer wieder das­selbe lesen. Wenn die Wie­der­ho­lung also nichts Neues in die Geschichte ein­bringt, soll­test Du sie daher weg­lassen oder zumin­dest kurz halten. Doch wenn sie die Geschichte tat­säch­lich berei­chert – Dann tobe Dich gerne aus!
  • Wäh­rend Repe­ti­tion die Erzäh­lung ver­lang­samt, sorgt die Ite­ra­tion für eine Beschleu­ni­gung: Denn gleich meh­rere Ereig­nisse werden zusam­men­ge­fasst. Um das zu errei­chen, muss der Erzähler ent­scheiden, was das Wesent­liche ist bzw. nach wel­chen Kri­te­rien er beschließt, welche Ereig­nisse sich „sehr ähn­lich“ sind.
  • Mit der Ite­ra­tion kann der Erzähler die regel­mä­ßigen Ereig­nisse in der fik­tiven Welt ordnen und dadurch World-Buil­ding betreiben. Und gerade weil Ite­ra­tionen Beschrei­bungen ähneln und meis­tens eher das Drum­herum der eigent­li­chen Geschichte zeichnen, können sie für einen Autor inter­es­sant sein. Man stelle sich zum Bei­spiel eine (pseudo-)iterative Szene vor, die auf den ersten Blick eine harm­lose All­tags­be­schrei­bung ist. – In Wirk­lich­keit ist in dieser Szene aber ein wich­tiges Detail ver­steckt. Doch weil der Leser glaubt, es eher mit Expo­si­tion und World-Buil­ding zu tun zu haben, fällt ihm dieses kleine Detail noch nicht auf: Wenn Lies­chen bei ihren regel­mä­ßigen Restau­rant­be­su­chen mit Fritz­chen sehr geschickt mit dem Messer han­tiert, denkt man sich ja nicht gleich, dass sie hinter dem Mord an Fritz­chens Bruder steckt …

Schluss­wort

So viel zu Genettes Erzähl­theorie, zusam­men­ge­fasst von mir nach bestem Wissen und Gewissen. Du hast jetzt also ein klein­ka­riertes Arsenal von erzähl­theo­re­ti­schem Werk­zeug zum Ana­ly­sieren Deiner Lieb­lings­bü­cher, zum Schreiben Deiner eigenen Werke und natür­lich zum Bestehen von Uni-Prü­fungen.

Ich wün­sche Dir damit viel Spaß und Erfolg!

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