Figurenanalyse von Ludwig Breyer („Der Weg zurück“ von E. M. Remarque)

Figurenanalyse von Ludwig Breyer („Der Weg zurück“ von E. M. Remarque)

Ein guter Figu­ren­tod (Cha­rac­ter Death) kann eine gro­ße Wir­kung haben. Ein sol­ches Bei­spiel ist der Tod von Leut­nant Lud­wig Brey­er in Remar­ques Roman Der Weg zurück, der Fort­set­zung von Im Wes­ten nichts Neu­es. Lud­wigs Tod trifft den Leser nicht nur emo­tio­nal, son­dern hat auch eine wich­ti­ge Bedeu­tung für den Plot und die Gesamt­aus­sa­ge des Buches. Wie erreicht Remar­ques das? In die­sem Arti­kel fin­den wir es heraus.

Die Foli­en für die­ses Video gibt es für Ste­ady-Abon­nen­ten und Kanal­mitglieder auf You­Tube als PDF zum Download.

Hach, ja … Gibt es denn einen schö­ne­ren Weg, dem Leser das Herz zu bre­chen, als eine gelieb­te Figur ster­ben zu las­sen?

Damit der Anschlag auf die Gefüh­le des Lesers aber wirk­lich funk­tio­niert, müs­sen eini­ge Grund­be­din­gun­gen erfüllt sein:

  • Die Figur ist dem Leser tat­säch­lich sym­pa­thisch.
  • Der Tod der Figur hat eine Funk­ti­on für das Gesamt­werk (und pas­siert nicht um des blo­ßen Schocks willen).
  • Der Tod der Figur kommt nicht zufäl­lig aus dem Nichts.

Eine Figur, die mei­ner Mei­nung nach das alles erfüllt, ist Leut­nant Lud­wig Brey­er aus Remar­ques Roman Der Weg zurück.

Und bit­te ent­schul­di­ge auch gleich den Spoi­ler. Aller­dings geht es in Der Weg zurück nicht um eine vir­tuo­se, unvor­her­seh­ba­re Hand­lung, also nicht um das Was, son­dern mehr um das Wie bzw. kon­kre­te Situa­tio­nen, Zustän­de, Dia­lo­ge bzw. im Grun­de um eine anschau­li­che Demons­tra­ti­on der unzäh­li­gen Sym­pto­me einer Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung. Des­we­gen fin­de ich Spoi­ler hier nicht so dra­ma­tisch, aber ab die­sem Punkt soll jeder selbst wissen.

Wenn Spoi­ler Dich also nicht abschre­cken oder Du das Buch schon gele­sen hast: Zer­le­gen wir gemein­sam die Figur von Lud­wig Breyer!

Der Weg zurück: Worum geht es?

Wie bereits gesagt, ist der Plot in Der Weg zurück nicht all­zu kom­pli­ziert und lässt sich in einem Satz zusammenfassen:

Nach dem Ers­ten Welt­krieg keh­ren die über­le­ben­den Sol­da­ten nach Hau­se zurück und müs­sen fest­stel­len, dass der Weg zurück ins nor­ma­le Leben – gelin­de gesagt – sehr beschwer­lich ist.

Mit ande­ren Worten:

Der Roman zeigt, dass der Krieg nicht ein­fach vor­bei ist, wenn nicht mehr geschos­sen wird. Denn er hin­ter­lässt im Leben jener, die ihn erlebt haben, und ihrer Ange­hö­ri­gen blei­ben­de Spu­ren. Und so man­cher, der den Krieg in einem Stück über­lebt hat, über­lebt nicht die Zeit danach.

Die Fortsetzung von Im Westen nichts Neues

Der Weg zurück ist die 1930–31 erschie­ne­ne Fort­set­zung des welt­be­rühm­ten Romans Im Wes­ten nichts Neu­es, kann aber auch kom­plett für sich gele­sen wer­den, weil nur eine Neben­fi­gur aus dem ers­ten Roman vor­kommt und die rest­li­chen Figu­ren nur erwähnt werden.

Wie auch in Im Wes­ten nichts Neu­es zeigt Remar­que hier das Grau­en des Ers­ten Welt­krie­ges, aller­dings mit Schwer­punkt auf sei­nen lang­fris­ti­gen Fol­gen. Kom­men in Im Wes­ten nichts Neu­es die Pro­ble­me im zivi­len Leben nur kurz wäh­rend des Front­ur­laubs des Prot­ago­nis­ten vor, sind sie in Der Weg zurück der Haupt­ge­gen­stand der Erzäh­lung. Umge­kehrt wird das unmit­tel­ba­re Grau­en des Ers­ten Welt­krie­ges, das den Haupt­teil von Im Wes­ten nichts Neu­es bil­det, in Der Weg zurück vor allem am Anfang und in Flash­backs gezeigt. Somit ergän­zen sich die bei­den Roma­ne auch gegenseitig.

Im Gegen­satz zum Vor­gän­ger wer­den der Krieg und die Mili­ta­ri­sie­rung der Jugend in Der Weg zurück sehr expli­zit ver­ur­teilt. Die Ten­den­zen der Erschei­nungs­zeit des Romans haben Remar­que offen­sicht­lich sehr beun­ru­higt und es ist auch nicht ver­wun­der­lich, dass Der Weg zurück bei sei­nem Erschei­nen in Deutsch­land eine Kon­tro­ver­se aus­lös­te. 1933 wur­de der Roman zusam­men mit Im Wes­ten nichts Neu­es öffent­lich verbrannt.

Schicksale der Figuren

Erzählt wird die Geschich­te von einem Ich-Erzäh­ler namens Ernst Birk­holz. Doch neben sei­ner eige­nen Geschich­te berich­tet Ernst auch von den Schick­sa­len sei­ner Kame­ra­den, die alle ver­schie­de­ne Hür­den bewäl­ti­gen müs­sen und unter­schied­li­che Lebens­we­ge ein­schla­gen. So ent­steht schließ­lich ein Pan­ora­ma-Über­blick über die vie­len ver­schie­de­nen Fol­gen des Krieges.

Ernst berich­tet unter anderem:

  • wie der Krieg Men­schen verändert,
  • wie er Ehen und Fami­li­en zerstört,
  • wie er zu Berufs­un­fä­hig­keit führt,
  • wie er das Knüp­fen von Bezie­hun­gen erschwert,
  • wie er im Kopf, vor dem geis­ti­gen Auge, weitertobt,
  • wie er Kon­flik­te zwi­schen Vete­ra­nen und Zivi­lis­ten hervorruft,
  • wie er Wer­te verdreht
  • und nicht zuletzt wie die insta­bi­le poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Situa­ti­on nach dem Krieg das Gan­ze nicht gera­de bes­ser macht.

Es ist dabei auch noch zu beto­nen, dass Ernst und vie­le sei­ner Kame­ra­den noch Schü­ler waren, als sie in den Krieg gezo­gen sind. Die meis­ten Zuschau­er des Schreib­tech­ni­ke­rin-You­Tube-Kanals sind +/- 20 Jah­re alt. Und daher sind Ernst und vie­le sei­ner Freun­de 1918 und 1919 wahr­schein­lich in Dei­nem Alter. Und noch ahnen sie nicht, dass ihnen nach dem Trau­ma des Ers­ten Welt­krie­ges noch ein Zwei­ter Welt­krieg bevor­steht. Es ist also die Gene­ra­ti­on, die wohl die arschigs­te Arsch­kar­te über­haupt gezo­gen hat.

Eine Arsch­kar­te haben Ernst und sei­ne Kame­ra­den aber auch des­we­gen, weil sie nach Jah­ren in rat­ten­ver­seuch­ten Schüt­zen­grä­ben und Trom­mel­feu­er alle­samt an der Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung lei­den, die Wis­sen­schaft damals auf die­ses Krank­heits­bild aber gera­de erst auf­merk­sam wur­de. Die Jungs sind also mit ihren Depres­sio­nen, Flash­backs und Hal­lu­zi­na­tio­nen, Schlaf­stö­run­gen, sexu­el­len Pro­ble­men, Ängs­ten, ihrer Reiz­bar­keit und Schreck­haf­tig­keit kom­plett auf sich allein gestellt.

Und nun nähern wir uns all­mäh­lich auch Lud­wig Brey­er. Er ist ein lang­jäh­ri­ger Freund und Mit­schü­ler von Ernst Birk­holz und wohl der­je­ni­ge, der die Pro­ble­me sei­ner Gene­ra­ti­on am bes­ten ver­steht und am vehe­men­tes­ten an sei­ner Hoff­nung fest­hält, ins zivi­le Leben zurück­keh­ren zu kön­nen. Bis er bricht.

Ludwig Breyer: Leben und Persönlichkeit

Lud­wig ist der Sohn eines Steu­er­se­kre­tärs und hat­te, den Hin­wei­sen im Roman nach, eine behü­te­te, bür­ger­li­che Kind­heit. Er war ein ver­träum­ter Jun­ge, der Edel­stei­ne gesam­melt und Höl­der­lin geliebt hat. Mit sei­nen eben­so ver­träum­ten Freun­den, eben­falls Fan­boys von roman­ti­scher Lite­ra­tur, hat er Nacht­wan­de­run­gen unter­nom­men und von Aben­teu­ern fantasiert.

Mit dem Vor­an­schrei­ten sei­ner Schul­lauf­bahn lan­de­te er mit eini­gen sei­ner Freun­de am katho­li­schen Leh­rer­se­mi­nar. Doch bevor er sei­nen Abschluss machen konn­te, brach der Ers­te Welt­krieg aus und Lud­wig und sei­ne Mit­schü­ler waren leich­te Beu­te für die Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne­rie. Sobald sie alt genug waren, zogen sie frei­wil­lig in den Krieg.

Ludwig als Kriegsheld

Die kom­plet­te Gene­ra­ti­on wur­de in den Schüt­zen­grä­ben schwer trau­ma­ti­siert. Der ehe­mals ver­träum­te, zar­te Lud­wig gehört dabei aller­dings zu jenen, die sich auch aus­ge­zeich­net haben. Am Ende des Krie­ges ist er Leut­nant, hat einen Orden und sei­ne Freun­de erin­nern sich, wie er im Allein­gang einen gan­zen Pan­zer lahm­ge­legt hat:

„[…] denn Lud­wig sonst! – Weißt du noch, wie er den Tank bei Bix­schoo­te erle­dig­te? – Ganz allein? Das war nicht so ein­fach, mein lie­ber Scholli -“
Zwei­ter Teil, I.

Für den his­to­ri­schen Kon­text soll­te erwähnt wer­den, dass so jun­ge Leut­nants damals durch­aus üblich waren: Die unters­ten Offi­ziers­dienst­gra­de hat­ten im Ers­ten Welt­krieg die höchs­te Sterb­lich­keits­ra­te, weil sie ihre Män­ner ganz vor­ne in die Schlacht führ­ten und auch von den Offi­zie­ren der höhe­ren Rän­ge auf ris­kan­te Mis­sio­nen geschickt wur­den. Nach­dem die Armee also in den ers­ten Kriegs­mo­na­ten einen guten Teil ihrer ord­nungs­ge­mäß aus­ge­bil­de­ten Leut­nants ver­lo­ren hat­te, wur­den 18-jäh­ri­ge Kriegs­frei­wil­li­ge und Wehr­pflich­ti­ge beför­dert. Vor­aus­set­zung waren eine ange­mes­se­ne Her­kunft – man soll­te min­des­tens aus einer Beam­ten- oder Bürg­erfa­mi­lie stam­men -, die Mitt­le­re Rei­fe sowie eine cha­rak­ter­li­che Eignung.

Vie­le die­ser hal­ben Kin­der waren mit der Ver­ant­wor­tung über­for­dert, benah­men sich dane­ben oder ent­pupp­ten sich als Drauf­gän­ger. Ande­re wie­der­um küm­mer­ten sich um ihre Sol­da­ten, behan­del­ten sie mit Respekt und waren für ihre Män­ner, die zum Teil vom Alter her ihre Väter sein könn­ten, ein Fels in der Brandung.

Lud­wig gehört zur letz­te­ren Grup­pe. Er genießt bei sei­nen Män­nern Respekt und sie haben stets ein Auge auf ihn, als er krank und spä­ter auch ver­wun­det nicht ins Laza­rett gehen möch­te, weil das Ster­ben dort auf die Psy­che drückt und somit auch anste­ckend ist. Mehr noch, wann immer Ver­trau­ens­leu­te oder Ver­tre­ter gewählt wer­den müs­sen, gehört er zu den Wahl­sie­gern. Und als er im Zuge der Revo­lu­ti­on auf­ge­for­dert wird, sei­ne Ach­sel­stü­cke abzu­neh­men, sind sei­ne Sol­da­ten kon­se­quent dagegen:

„Weil ver­langt von Lud­wig, er sol­le sei­ne Ach­sel­stü­cke abma­chen. «Hier -», sagt Lud­wig müde und tippt an sei­ne Stirn. Beth­ke schiebt Weil zurück. «Lud­wig gehört doch zu uns», sag­te er kurz. Brey­er ist als Kriegs­frei­wil­li­ger zur Kom­pa­nie gekom­men und da Leut­nant gewor­den. Er duzt sich nicht nur mit uns, mit Troß­ke, Homey­er, Brö­ger und mir – das ist selbst­ver­ständ­lich, denn wir sind sei­ne Mit­schü­ler von frü­her -, son­dern auch mit sei­nen älte­ren Kame­ra­den, wenn kein ande­rer Offi­zier in der Nähe ist. Das wird ihm hoch angerechnet.“
Ers­ter Teil, II.

„«[…] Der da aber -», er zeigt auf Lud­wig hin­über, «ist unser Leut­nant, und er behält sie, und wehe dem, der was dazu sagt.»“
Zwei­ter Teil, I.

Mit ande­ren Worten:

Der Leut­nant Lud­wig Brey­er ist nicht nur ein Kriegs­held, son­dern auch jemand, der bei schlimms­ter psy­chi­scher und kör­per­li­cher Belas­tung Ver­ant­wor­tung über­neh­men kann und ande­re stets mit Respekt behandelt.

Ludwig als Stimme der Vernunft

Nun spielt der Groß­teil des Romans aber nach dem Krieg und Lud­wig muss sich den­sel­ben Her­aus­for­de­run­gen stel­len wie sei­ne Kame­ra­den. Hier zei­gen sich noch ein­mal stark sei­ne ruhi­ge, beson­ne­ne und beschei­de­ne Art sowie sei­ne Fähig­keit, ein Pro­blem aus vie­len ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven zu betrach­ten. Gleich­zei­tig wirkt er stel­len­wei­se aber auch etwas schwer­mü­tig. – Aber eins nach dem anderen.

Lud­wig sticht unter sei­nen Kame­ra­den sehr schnell dadurch her­vor, dass er sich eher im Hin­ter­grund hält. Er gehört zu den stil­le­ren Figu­ren und betei­ligt sich auch nicht an den leicht­sin­ni­ge­ren Unter­neh­mun­gen sei­ner Freun­de. Am Anfang des Romans wird er von sei­nen Freun­den auf­grund sei­ner Ruhr und sei­nes Arm­schus­ses geschont, aber wie sich nach sei­ner Gene­sung zeigt, han­delt Lud­wig auch gene­rell über­legt und ver­ant­wor­tungs­voll, sel­ten aus einer Emo­ti­on heraus.

So wer­den er und zwei sei­ner Freun­de bei ihrer Ankunft in ihrer Hei­mat­stadt von Revo­lu­tio­nä­ren ange­grif­fen, weil er immer noch sei­ne Ach­sel­tü­cke trägt. Dabei wird kei­ne Rück­sicht auf sei­nen Zustand genom­men und sein Ver­band wird zer­tre­ten. Als sein Freund Wil­ly den Mis­se­tä­ter ein­fängt, vor Lud­wig auf die Knie wirft und eine Ent­schul­di­gung ver­langt, will er, dass Wil­ly den Mann wie­der lau­fen lässt.
Zwei­ter Teil, I.

Wenn Lud­wig bei einem Kon­flikt denn mal selbst­stän­dig in den Vor­der­grund tritt, dann mit der Absicht einer Dees­ka­la­ti­on:

Einen sol­chen „Auf­tritt“ hat er, als er und sei­ne Freun­de wie­der zur Schu­le gehen und der Direk­tor eine Anspra­che hält, die die ehe­ma­li­gen Sol­da­ten wütend macht:

„Beson­ders geden­ken aber wol­len wir der gefal­le­nen Zög­lin­ge unse­rer Anstalt, die freu­dig hin­aus­ge­eilt sind, um die Hei­mat zu schüt­zen, und geblie­ben sind auf dem Fel­de der Ehre. Ein­und­zwan­zig Kame­ra­den sind nicht mehr unter uns – ein­und­zwan­zig Kämp­fer haben den ruhm­rei­chen Tod der Waf­fen gefun­den – ein­und­zwan­zig Hel­den ruhen in frem­der Erde aus vom Klir­ren der Schlacht und schlum­mern den ewi­gen Schlaf unterm grü­nen Rasen …“
Zwei­ter Teil, V.

Der Direk­tor wird immer wie­der unter­bro­chen von sei­nen Schü­lern, die die Kame­ra­den, von denen er spricht, haben ster­ben sehen:

„Hel­den­tod! Wie ihr euch das vor­stellt! Wol­len Sie wis­sen, wie der klei­ne Hoyer gestor­ben ist? Den gan­zen Tag hat er im Draht­ver­hau gele­gen und geschrien, und die Där­me hin­gen ihm wie Mak­ka­ro­ni aus dem Bauch. Dann hat ihm ein Spreng­stück die Fin­ger weg­ge­ris­sen und zwei Stun­den spä­ter einen Fet­zen vom Bein, und er hat immer noch gelebt und ver­sucht, sich mit der ande­ren Hand die Där­me rein­zu­stop­fen, und schließ­lich abends war er fer­tig. Als wir dann her­an­konn­ten, nachts, war er durch­lö­chert wie ein Reib­ei­sen. Erzäh­len Sie doch sei­ner Mut­ter, wie er gestor­ben ist, wenn Sie Cou­ra­ge haben!“

Der Direk­tor ist hilf­los, es wird immer lau­ter, ein Durcheinander …

„Doch auf ein­mal ebbt der Tumult ab. Lud­wig Brey­er ist vor­ge­tre­ten. Es wird ruhig. «Herr Direk­tor», sagt Lud­wig mit sei­ner kla­ren Stim­me, «Sie haben den Krieg auf Ihre Wei­se gese­hen. Mit flie­gen­den Fah­nen, mit Begeis­te­rung und Marsch­mu­sik. Aber Sie haben ihn nur bis zum Bahn­hof gese­hen, von dem wir abfuh­ren. Wir wol­len Sie des­halb nicht tadeln. Wir alle haben ja eben­so gedacht wie Sie. Aber inzwi­schen haben wir die ande­re Sei­te ken­nen­ge­lernt. Das Pathos von 1914 zer­stob davor bald zu nichts. Wir haben trotz­dem durch­ge­hal­ten, denn etwas Tie­fe­res hielt uns zusam­men, etwas, das erst drau­ßen ent­stan­den ist, eine Ver­ant­wor­tung, von der Sie nichts wis­sen, und über die man nicht reden kann.»

Lud­wig sieht einen Augen­blick vor sich hin. Dann streicht er sich über die Stirn und spricht wei­ter. «Wir ver­lan­gen kei­ne Rechen­schaft von Ihnen – das wäre töricht, denn nie­mand hat gewußt, was kam. Aber wir ver­lan­gen von Ihnen, daß Sie uns nicht wie­der vor­schrei­ben, wie wir über die­se Din­ge den­ken sol­len. Wir sind begeis­tert aus­ge­zo­gen, das Wort Vater­land auf den Lip­pen – und wir sind still heim­ge­kehrt, den Begriff Vater­land im Her­zen. Dar­um bit­ten wir Sie jetzt, zu schwei­gen. Las­sen Sie die gro­ßen Wor­te. Sie pas­sen nicht mehr für uns. Sie pas­sen auch nicht für unse­re toten Kame­ra­den. Wir haben sie ster­ben sehen. Die Erin­ne­rung dar­an ist noch so nahe, daß wir es nicht ertra­gen kön­nen, wenn über sie so gespro­chen wird, wie Sie es tun. Sie sind für mehr gestor­ben als dafür.»“

Dar­auf­hin wird es in der Aula „ganz still“ und Lud­wig zieht sich wie­der in den Hin­ter­grund zurück.

Wie gesagt, sol­che „küh­len“ Auf­trit­te sind cha­rak­te­ris­tisch für Ludwig:

In einer Rück­blen­de, als die Sol­da­ten ein Mas­sen­grab für ihre gefal­le­nen Kame­ra­den aus­he­ben, bricht eine Schlä­ge­rei aus und Lud­wig, der auf­grund eines schwe­ren Ruhr­an­falls eigent­lich frei­ge­stellt ist, kriecht unter sei­nen zwei Män­teln her­vor und kom­man­diert Ruhe. Und „[o]bschon die Stim­me lei­se war, hör­te der Lärm sofort auf.“
Zwei­ter Teil, III.

Ein ande­rer bemer­kens­wer­ter „Auf­tritt“ pas­siert, als in der Stadt Unru­hen aus­bre­chen, vor dem Rat­haus ein Maschi­nen­ge­wehr auf­ge­stellt und ein Mann ange­schos­sen wird. Anhand der Stim­me des Kom­man­dan­ten erken­nen Ernst und sei­ne Freun­de ihren ehe­ma­li­gen Kompanieführer.

„Da füh­le ich mich bei­sei­te­ge­scho­ben. Lud­wig Brey­er steht auf und geht über den Platz auf den dunk­len Klum­pen Tod zu.

«Lud­wig!» rufe ich.

Aber er geht wei­ter – wei­ter. – Ent­setzt star­re ich ihm nach.

«Zurück!» kommt wie­der das Kom­man­do von der Rathaustreppe.

Lud­wig bleibt einen Moment ste­hen. «Las­sen Sie nur wei­ter­schie­ßen, Ober­leut­nant Heel!» ruft er zum Rat­haus hin­über. Damit geht er vor­wärts und beugt sich zu dem am Boden Lie­gen­den herunter.“

Sechs­ter Teil, II.

Der Mann, dem Lud­wig hel­fen woll­te, ist zwar tot und es gibt spä­ter dann doch wie­der Schüs­se, aber wenigs­tens kön­nen er und sei­ne Freun­de die Lei­che wegtragen.

Auch das Ver­ständ­nis, das Lud­wig dem Direk­tor ent­ge­gen­ge­bracht hat, ist typisch. Als sein und Ernsts Kind­heits­freund Georg Rahe wie­der Sol­dat wer­den will, ist Ernst verwirrt:

„«Ver­stehst du das?» fra­ge ich Ludwig.

«Ja», ant­wor­tet er, «ich ver­ste­he es. Aber es nützt ihm nichts.»“

Vier­ter Teil, V.

Lud­wigs Ver­ständ­nis der Situa­ti­on und sei­ner Mit­men­schen gilt im Übri­gen auch für die ehe­ma­li­gen Fein­de. Denn ihm ist bewusst, dass die Jugend aller Län­der der­sel­ben Pro­pa­gan­da zum Opfer gefal­len ist und miss­braucht wur­de:

„Wir haben gegen uns selbst Krieg geführt, ohne es zu wis­sen! Und jeder Schuß, der traf, traf einen von uns! Hör doch, ich schreie es dir in die Ohren: Die Jugend der Welt ist auf­ge­bro­chen, und in jedem Lan­de ist sie belo­gen und miß­braucht wor­den, in jedem Lan­de hat sie für Inter­es­sen gefoch­ten statt für Idea­le, in jedem Lan­de ist sie zusam­men­ge­schos­sen wor­den und hat sich gegen­sei­tig aus­ge­rot­tet! […] Eine Gene­ra­ti­on ist ver­nich­tet wor­den! Eine Gene­ra­ti­on Hoff­nung, Glau­ben, Wil­len, Kraft, Kön­nen ist hyp­no­ti­siert wor­den, so daß sie sich selbst zusam­men­schoß, obschon sie in der gan­zen Welt die glei­chen Zie­le hatte!“
Vier­ter Teil, V.

Inter­es­sant ist in die­sem Zusam­men­hang auch Remar­ques Erzäh­lung Der Feind. Hier wird ein gewis­ser Leut­nant Lud­wig Brey­er nach sei­ner leb­haf­tes­ten Erin­ne­rung gefragt. Doch statt von Ver­dun, der Som­me oder Flan­dern zu erzäh­len, berich­tet er von Momen­ten, durch die ihm bewusst wur­de, dass die Fein­de jen­seits des Nie­mands­lands Men­schen waren wie er selbst und sei­ne Kame­ra­den: „Men­schen, die wie wir von star­ken Wor­ten und Waf­fen ver­hext waren“. Es ist nicht ganz klar, ob der Lud­wig Brey­er in Der Feind der­sel­be Lud­wig Brey­er ist wie in Der Weg zurück, aber die Figur fügt sich naht­los in das Bild, das im Roman gezeich­net wird.

Ludwig als Hoffnungsträger

Die­ses kri­ti­sche Den­ken, das im Krieg erwacht ist, hat Lud­wig nach sei­ner Rück­kehr zu einer ziem­li­chen Lese­rat­te wer­den las­sen: Wäh­rend sei­ne Freun­de mit sich nichts anzu­fan­gen wis­sen, hams­tern gehen, um sich den Bauch voll­zu­stop­fen, zu Schie­bern wer­den oder in Tanz­lo­ka­len Zer­streu­ung suchen, brü­tet er von mor­gens bis abends über schwe­ren Büchern:

„Drau­ßen ist mir so man­ches durch den Kopf gegan­gen, Ernst, und ich konn­te es nie recht zusam­men­krie­gen. Jetzt aber, wo es nun vor­bei ist, möch­te ich eine Men­ge wis­sen; wie das mit den Men­schen ist, weißt du, daß so etwas pas­sie­ren konn­te, und wie das alles kommt. Da gibt es vie­le Fra­gen. Auch bei uns sel­ber. Frü­her haben wir über das Leben doch ganz anders gedacht. Ich möch­te vie­les wis­sen, Ernst …“
Zwei­ter Teil, IV.

Durch sei­ne beson­ne­ne und kon­struk­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se an die Pro­ble­me sei­ner Gene­ra­ti­on ent­wi­ckelt er tat­säch­lich ein Kon­zept, wie „der Weg zurück“ klap­pen könn­te, und macht es zur Grund­la­ge sei­ner Hoff­nung. Dadurch gerät er in eine sehr emo­tio­na­le Dis­kus­si­on mit dem hit­zi­ge­ren und pes­si­mis­ti­sche­ren Georg Rahe:

Die­ser, eben­falls Leut­nant, war im letz­ten hal­ben Jahr des Krie­ges Flie­ger und hat vier Eng­län­der abge­schos­sen. Durch die Par­al­le­len des Wer­de­gangs und die mar­kan­ten Unter­schie­de im Tem­pe­ra­ment wirkt er wie eine Art Anti-Lud­wig. Ein Dop­pel­gän­ger, der mehr das Gefühl ver­kör­pert, wäh­rend Lud­wig Brey­er eher für den Ver­stand steht.

Als Georg nun, ent­täuscht vom zivi­len Leben, wie­der Sol­dat wer­den will, meint Lud­wig, dass Ent­täu­schung nach allem, was sie erlebt haben, ganz natür­lich ist. Noch bevor das Krank­heits­bild der Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung rich­tig defi­niert war, for­mu­liert Ludwig:

„Ich glau­be, wir sind krank, Georg. Wir haben den Krieg noch in den Knochen.“
Vier­ter Teil, V.

Georg, der meint, dass sie den Krieg nie mehr los­wer­den, will die Kame­rad­schaft wie­der­erle­ben. Doch Lud­wig erin­nert ihn an die Pro­pa­gan­da und die Mani­pu­la­tio­nen vor dem Krieg und sieht eine Rück­kehr in die Armee daher nicht als Lösung. Er meint, man kön­ne viel­leicht mit Arbeit eine bes­se­re Welt erschaf­fen, und arbei­ten müs­se man eben wie­der ler­nen. Und weil Georg sich nicht über­zeu­gen lässt und es nach wie vor für „aus­sichts­los“ hält, schau­kelt sich das Gespräch hoch und es ist eine der weni­gen Situa­tio­nen, in denen Lud­wig tat­säch­lich die Fas­sung ver­liert:

„Sei­ne Stim­me bricht. Sei­ne Augen sind voll Schluch­zen und Wild­heit. Wir sind alle auf­ge­sprun­gen. «Lud­wig», sage ich und lege den Arm um sei­nen Nacken.“

Als Georg sich ver­ab­schie­det, ruft er:

„Du gehst, Georg […] aber ich blei­be! Ich gebe es noch nicht auf!“

So ver­zwei­felt wie Lud­wig an sei­ner Hoff­nung fest­hält, so ver­zwei­felt macht ihn schließ­lich auch sei­ne Dia­gno­se:

Weil Ernst mit ihm über sei­ne Pro­ble­me reden und nach einem Rat fra­gen will, besucht er Lud­wig, stellt aber schnell fest, dass die­ser irgend­wie neben der Spur ist. Als Lud­wig bald zum Arzt auf­bre­chen will, bie­tet Ernst ihm an, ihn zu beglei­ten. Lud­wig wil­ligt zwar ein, ist sonst aber aus­wei­chend und wirft Ernst ver­stoh­le­ne Bli­cke zu. Nach und nach wird die Situa­ti­on aber kla­rer und schließ­lich steht es ein­deu­tig im Raum: Lud­wig hat sich im Krieg wäh­rend eines kur­zen Urlaubs in Brüs­sel, als er „zwi­schen Tod und Tod“ (Sechs­ter Teil, I.) so viel vom Leben mit­neh­men woll­te wie mög­lich, die Syphi­lis geholt. Er und sei­ne Freun­de waren immer­hin als Jung­frau­en in den Krieg gezo­gen und sexu­el­le Auf­klä­rung gab es damals natür­lich nicht.

Zwar kann die Syphi­lis 1919 bereits behan­delt wer­den, doch die­ses stig­ma­ti­sier­te Relikt des Krie­ges, das buch­stäb­lich in sei­nem Kör­per steckt, läu­tet den Anfang vom Ende ein: Spä­ter sieht er, wie Kame­ra­den auf­ein­an­der schie­ßen, wie ein ande­rer Kame­rad in bru­ta­le Ver­hal­tens­mus­ter ver­fällt, die nicht ins zivi­le Leben pas­sen, und trifft sei­ne ers­te Lie­be wie­der, sieht sich jedoch durch die Syphi­lis in einer Sackgasse.

Es wird ihm zu viel und sei­ne Hoff­nung, den Krieg jemals los­zu­wer­den, bricht:

„Es ist alles umsonst, Ernst. Wir sind kaputt, aber die Welt geht wei­ter, als wenn der Krieg nicht dage­we­sen wäre. Es wird nicht mehr lan­ge dau­ern, und unse­re Nach­fol­ger auf den Schul­bän­ken wer­den mit gie­ri­gen Augen den Erzäh­lun­gen aus dem Krie­ge lau­schen und sich aus der Lan­ge­wei­le der Schu­le her­aus wün­schen, auch dabei gewe­sen zu sein. Jetzt schon lau­fen sie zu den Frei­korps – und kaum sieb­zehn­jäh­rig bege­hen sie poli­ti­sche Mor­de. Ich bin so müde, Ernst -“
Sechs­ter Teil, V.

Er kann nicht mehr wei­ter­le­ben und öff­net sich die Puls­adern. Der nun hoff­nungs­lo­se Hoff­nungs­trä­ger stirbt.

Ein Held zum Anfassen

Bevor wir jedoch zu den Aus­wir­kun­gen und zur Bedeu­tung sei­nes Selbst­mords über­ge­hen, tra­gen wir kurz zusam­men, was die Figur Lud­wig Brey­er denn an sich bedeu­tet:

  • Lud­wig Brey­er ist in aller­ers­ter Linie ein Held. Zwar räumt Remar­que mit dem Mythos von Glanz und Hel­den­tum kon­se­quent auf und auch Lud­wig ist nicht der Held, den man in Geschich­ten typi­scher­wei­se antrifft. Aber von allen Figu­ren im Roman kommt er dem Hel­den­ide­al wohl am nächs­ten. Ja, auch ande­re Figu­ren haben Orden, wur­den zu Offi­zie­ren beför­dert, zei­gen im Ver­lauf der Hand­lung Cou­ra­ge etc. Doch im Fall von Lud­wig kommt das alles zusam­men: Er ist ein Kriegs­held, er ist stets die Stim­me der Ver­nunft und er hofft ver­bis­sen auf eine fried­li­che Zukunft.
  • Gleich­zei­tig ist er aber auch sehr rea­lis­tisch. Im Gegen­satz zu all den Hel­den, die „lar­ger than life“ sind, kann man Men­schen wie Lud­wig im rea­len Leben tat­säch­lich antref­fen. Durch all die Sze­nen, in denen Lud­wig ver­ant­wor­tungs­voll ein­schrei­tet, und den Respekt, den sei­ne Kame­ra­den ihm ent­ge­gen­brin­gen, steht er zwar durch­aus in heroi­schem Licht, aber letzt­end­lich ist auch er ein gewöhn­li­cher Mensch mit Sor­gen und Ängs­ten und einer Schmer­zens­gren­ze. Dadurch ent­wi­ckelt man beim Lesen eine per­sön­li­che Nähe zu ihm.
  • Die­ses Gefühl der per­sön­li­chen Nähe wird natür­lich auch dadurch begüns­tigt, dass Lud­wig einer der engs­ten Freun­de des Prot­ago­nis­ten Wir erle­ben das Gesche­hen aus der Per­spek­ti­ve von Ernst Birk­holz, die Lud­wig gegen­über natür­lich sehr posi­tiv ein­ge­färbt ist. Er teilt mit Lud­wig sei­ne schöns­ten und schlimms­ten Erin­ne­run­gen und Lud­wig rutscht stel­len­wei­se sogar ein wenig in eine Men­tor­rol­le, weil er es ist, an den Ernst sich wen­det, wenn er etwas auf dem Her­zen hat. Und ver­ges­sen wir nicht, dass er es war, der den „Weg zurück“ ent­deckt hat, auch wenn er ihn selbst nicht beschrei­ten konnte.

All das macht ihn trotz sei­ner Schwä­chen zur Ver­kör­pe­rung eines gesun­den und durch­aus erreich­ba­ren Männ­lich­keits- und auch gene­rell Men­schen­ide­als. Er ist die Art von Mensch, die man eigent­lich bräuch­te, um eine bes­se­re Welt zu erschaf­fen. Auch das macht ihn zum Hoff­nungs­trä­ger.

Doch er schei­tert an dem Krieg, der immer noch in sei­nem Kör­per steckt, an den Umstän­den sei­ner Zeit und auch an sei­ner eige­nen Mensch­lich­keit. Der Krieg hat ihn kör­per­lich und see­lisch krank gemacht, ange­mes­se­ne Hil­fe – bei­spiels­wei­se in Form einer The­ra­pie – hat es zu sei­ner Zeit natür­lich nicht gege­ben und außer­dem scheint er auch die Nei­gung zu haben, sei­ne Pro­ble­me in sich hin­ein­zu­fres­sen: Sei­nen Kame­ra­den fällt im Ver­lauf des Romans immer wie­der auf, dass etwas nicht stimmt, aber er schweigt nur; und wenn Ernst ihn nicht am genau rich­ti­gen Tag zur genau rich­ti­gen Zeit besucht und ihm nicht ange­bo­ten hät­te, ihn zum Arzt zu beglei­ten, hät­te wohl nie jemand von sei­ner Dia­gno­se erfahren.

Das ist – zumin­dest mei­ner Erfah­rung nach – ein ten­den­zi­ell recht männ­li­ches Pro­blem, aber ich den­ke, dass hier­bei auch sei­ne Zeit als Leut­nant eine Rol­le spielt: Denn im Krieg muss­te er für sei­ne Män­ner ja der Fels in der Bran­dung sein. Er regelt die Kon­flik­te und Pro­ble­me ande­rer, man kommt zu ihm, wenn man Hil­fe braucht, aber er selbst bit­tet nie um Hil­fe und akzep­tiert sie nur, wenn man sie ihm von sich aus anbie­tet. Doch gera­de bei Selbst­mord­ge­dan­ken ist es wich­tig, mit jeman­dem zu reden. Egal, mit wem. Und gera­de Ernst wäre sicher­lich für ihn da gewe­sen: Nicht nur ist er ein enger Freund, son­dern er ist auch der­je­ni­ge, der den ande­ren am meis­ten zuhört, wenn sie über ihre Pro­ble­me reden. Zwar lei­det auch er an der Post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung, aber er wirkt den­noch wie der all­ge­mei­ne Trös­ter und Kum­mer­kas­ten. Er hat Lud­wig ja auch bei­gestan­den, als der sei­ne Dia­gno­se ver­dau­en musste.

Von daher an die­ser Stel­le eine wich­ti­ge Moral:

Wenn Du Pro­ble­me hast, dann lass Dir hel­fen. Wenn Du Selbst­mord­ge­dan­ken hast – und die haben die meis­ten Men­schen irgend­wann in ihrem Leben -, dann sprich mit jeman­dem. Mit Dei­ner Fami­lie, mit Freun­den, mit einem Arzt, wen­de Dich an eine Orga­ni­sa­ti­on oder ruf eine Hot­line an. Aber sei nicht wie Lud­wig und lass Dir hel­fen. Denn die­se Krank­heit ist heil­bar. Bloß muss der Aus­weg indi­vi­du­ell gefun­den wer­den. Aber das ist auf jeden Fall möglich.

Ludwigs Tod als Katalysator für die Handlung

Lud­wig Brey­er ist ein ver­zö­ger­tes Opfer des Krie­ges. Und dass aus­ge­rech­net er stirbt, hat eine sehr sym­bo­li­sche Bedeu­tung:

Er, der Held, die Hoff­nung auf eine bes­se­re Zukunft, er, der es eigent­lich hät­te schaf­fen sol­len, zerbricht.

Hat er beim Streit mit Georg Rahe noch geglaubt, sie wür­den gene­sen, den Krieg wie­der los­wer­den kön­nen, „denn sonst wäre alles umsonst gewe­sen“, gibt er sich letzt­end­lich geschla­gen: „Es ist alles umsonst, Ernst.“ Er pro­phe­zeit sogar völ­lig kor­rekt, dass die Leh­ren des Krie­ges schon bald in Ver­ges­sen­heit gera­ten würden.

Lud­wig Brey­er und der Anti-Lud­wig Georg Rahe, der es schon in der Mit­te des Romans für „umsonst“ hielt, wer­den damit eins. Und daher ist es nur pas­send, dass auch Georg Rahe, der die alte Kame­rad­schaft nicht mehr fin­det, eben­falls Selbst­mord begeht: Er besucht die alten Schlacht­fel­der und erschießt sich dort. Damit erlei­det auch er einen nach­träg­li­chen Soldatentod.

Doch es ist nicht nur die­ser Pes­si­mis­mus, der weh­tut, son­dern auch die emo­tio­na­le Wir­kung auf den Prot­ago­nis­ten Ernst Birk­holz:

Die­ser hat einen sei­ner wich­tigs­ten Freun­de ver­lo­ren, einen engen Ver­trau­ten und eine Art Men­tor, – und das in einer Zeit, in der alles, wor­an er sich fest­zu­hal­ten ver­sucht, nach und nach weg­bricht. Lud­wigs Selbst­mord löst einen Schock bei ihm aus, sei­ne Flash­backs und Alb­träu­me über­man­nen ihn und wer­den zu rich­ti­gen Hal­lu­zi­na­tio­nen und er erkrankt körperlich.
Sechs­ter Teil, V.

Als Leser kann man das sehr gut nach­voll­zie­hen, denn ers­tens iden­ti­fi­ziert man sich mit ihm, dem Ich-Erzäh­ler, und zwei­tens wur­de, wie bereits gesagt, eine per­sön­li­che Nähe zu Lud­wig aufgebaut.

Alles in allem ist Lud­wigs Tod also der abso­lu­te Tief­punkt des Romans.

Es folgt zwar noch eine sehr wich­ti­ge Gerichts­ver­hand­lung, doch sie bil­det eher den Rah­men für eine intel­lek­tu­el­le Dis­kus­si­on über die Fol­gen den Krie­ges, die man im Ver­lauf des Romans hat­te beob­ach­ten kön­nen, sowie für eine direk­te Ankla­ge gegen das Bürgertum:

„Ver­wil­de­rung? Durch wen denn? Durch euch! Ihr alle gehört vor unser Gericht! Ihr habt das mit eurem Krieg aus uns gemacht! […] Ihr habt euch um die Sie­ge gestrit­ten, ihr habt Krie­ger­denk­mä­ler ein­ge­weiht, ihr habt vom Hel­den­tum gere­det und euch gedrückt vor der Verantwortung!“
Sie­ben­ter Teil, II.

Wendung ins Positive

Vor allem aber hat sich vor der Gerichts­ver­hand­lung bereits eine neue Hoff­nung aufgetan:

Als Ernst nach sei­ner lan­gen Krank­heit, die übri­gens an Zukos Krank­heit nach der Befrei­ung von Appa (Ava­tar – Der Herr der Ele­men­te) erin­nert, end­lich allein aus­ge­hen darf, ent­deckt er die heil­sa­me Wir­kung der Natur: Als er den Wie­sen beim Leben zusieht, spürt er eine Ver­bun­den­heit, ein Glück, und weint.
Sie­ben­ter Teil, I.

Durch Lud­wigs Tod, die Krank­heit und die Erho­lung davon hat Ernst die Hoff­nung wie­der­ge­fun­den, die Lud­wig ver­lo­ren hat. Noch traut er sich nicht ganz, an die­se Hoff­nung zu glau­ben, und ist sich nicht sicher, ob er die­sen Weg ohne Lud­wig beschrei­ten kann, aber schließ­lich tut er es.

Er möch­te sei­ne Erkennt­nis auch ger­ne mit Georg Rahe tei­len: „Ich habe es heu­te gespürt. Lud­wig wuß­te ihn, aber er war zu krank. -“ Doch wie sich her­aus­stellt, ist auch Georg zu krank: «Ja, ja – wer­de nur nütz­lich, Ernst“, sagt er, bevor er zu den alten Schlacht­fel­dern auf­bricht: „Ich bin nur durch ein Ver­se­hen nicht gefal­len – das macht mich etwas lächerlich.“

Ernst aber the­ra­piert sich durch Spa­zier­gän­ge in die Natur und wen­det sich der Zukunft zu:

„Ich will an mir arbei­ten und bereit sein, ich will mei­ne Hän­de rüh­ren und mei­ne Gedan­ken, ich will mich nicht wich­tig neh­men, son­dern wei­ter­ge­hen, auch wenn ich manch­mal blei­ben möch­te. Es gibt vie­les auf­zu­bau­en und fast alles wie­der gut­zu­ma­chen, es gibt zu arbei­ten und aus­zu­gra­ben, was ver­schüt­tet wor­den ist in den Jah­ren der Gra­na­ten und Maschinengewehre. […]

Es wird nicht die Erfül­lung wer­den, von der wir in der Jugend geträumt und die wir nach den Jah­ren drau­ßen erwar­tet haben. Es wird ein Weg sein wie die andern, mit Stei­nen und guten Stre­cken, mit auf­ge­ris­se­nen Stel­len und Dör­fern und Fel­dern – ein Weg der Arbeit.“

Aus­gang, II.

Und gehol­fen hat ihm dabei Lud­wigs Tod:

„Wie ein­fach das alles ist; aber wie lan­ge hat es gedau­ert, dahin zu fin­den. Und viel­leicht hät­te ich mich doch noch im Vor­ge­län­de ver­irrt und wäre den Draht­schlin­gen und Spreng­kap­seln zum Opfer gefal­len, wenn nicht Lud­wigs Tod wie eine Rake­te vor uns auf­ge­schos­sen wäre und uns den Weg gezeigt hätte.“
Aus­gang, II.

Zwar hät­te Ernst die Hoff­nung, den Weg zurück, viel­leicht auch selbst gefun­den. Irgend­wann. Doch wie viel län­ger hät­te es gedau­ert? Und hät­te er so lan­ge durch­ge­hal­ten? Lud­wigs Tod und die Kri­se, die er aus­ge­löst hat, haben also Ernsts Hei­lungs­pro­zess beschleu­nigt und ihm viel­leicht sogar das Leben gerettet.

Damit fun­giert Lud­wigs Selbst­mord vor allem als Kata­ly­sa­tor für den Ent­wick­lungs­pro­zess des Prot­ago­nis­ten und damit auch der Handlung.

Fazit

Ich fin­de, Der Weg zurück steht zu Unrecht im Schat­ten von Im Wes­ten nichts Neu­es. Der Anti­kriegs­klas­si­ker wird zwar bis an den heu­ti­gen Tag rauf und run­ter gele­sen, doch dass der Krieg schreck­lich und grau­sam und blu­tig ist, ist in den brei­te­ren Bevöl­ke­rungs­schich­ten längst ange­kom­men. Doch sei­ne tie­fer­ge­hen­de, lang­fris­ti­ge Wir­kung, sein wah­res Aus­maß, fällt heut­zu­ta­ge immer noch ger­ne unter den Tisch. Denn Krieg ist viel mehr als Bom­ben, Schüs­se und Explo­sio­nen und es dau­ert gan­ze Men­schen­le­ben, bis er wirk­lich vor­bei ist.

  • All die Poli­ti­ker und Wirt­schafts­hei­nis, die demo­kra­ti­sche Idea­le und Men­schen­rech­te miss­brau­chen, um auf Grund­la­ge von gefälsch­ten Infor­ma­tio­nen Krie­ge los­zu­tre­ten, die in Wirk­lich­keit ihren geo­po­li­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen die­nen, kom­men auch heu­te noch unge­straft davon.
  • Kaum bes­ser sind aber auch all die krie­ge­ri­schen Pazi­fis­ten, die in jedem Sol­da­ten einen Mör­der sehen und ihn ver­ur­tei­len, obwohl sie nie in sei­ner Haut gesteckt haben. Es gibt immer einen Grund, war­um ein Mensch die Ent­schei­dun­gen trifft, die er trifft. Und ein Sol­dat ist ledig­lich nur eine unbe­deu­ten­de Schach­fi­gur und lei­det eben­falls unter dem Krieg, oft sogar noch vie­le Jah­re nach dem Ein­satz. Auch heu­te noch. Die Kriegs­füh­rung hat sich zwar ver­än­dert, aber der moder­ne Krieg ist immer noch trau­ma­tisch – auf sei­ne eige­ne Weise.

Ich per­sön­lich fin­de den Weg zurück daher sogar noch wich­ti­ger als Im Wes­ten nichts Neu­es und wenn ich end­lich reich und berühmt bin, will ich eine moder­ne Neu­ver­fil­mung des Romans durch­drü­cken. Im Wes­ten nichts Neu­es hat bereits zwei Ver­fil­mun­gen, eine von 1930 und eine von 1979. Nach­dem 1917 von Sam Men­des das The­ma Ers­ter Welt­krieg tren­dy gemacht hat, ist auch eine deut­sche Ver­fil­mung aktu­ell in Arbeit. Doch Der Weg zurück bleibt lei­der wei­ter­hin im Schat­ten. Es gibt zwar eine ame­ri­ka­ni­sche Ver­fil­mung von 1937, doch abge­se­hen davon, dass sie für das heu­ti­ge Publi­kum nicht mehr so gut geeig­net ist, ist sie ver­gli­chen mit dem Buch auch ziem­lich weich­ge­spült. Das gehört korrigiert.

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