Gibt es einen Bestseller-Code? Kann man vorhersagen, ob ein Buch ein Erfolg wird oder nicht? Jodie Archer und Matthew L. Jockers meinen: „Ja.“ Und eins der Kritierien, um einen Bestseller zu landen, ist ein interessanter Plot, der den Leser emotional mitnimmt und „süchtig“ macht. In diesem Artikel fasse ich kurz zusammen, was nach Archer und Jockers einen bestsellertauglichen Buch-Plot ausmacht.
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Es waren einmal zwei Literaturwissenschaftler. Sie entwickelten einen Computer-Algorithmus, der 5000 Bestseller und Nicht-Bestseller las und analysierte. Dadurch entdeckten sie den sogenannten „Bestseller-Code“: ein Set von Merkmalen, die ein Roman aufweisen muss, um sich gut zu verkaufen.
Und eines Tages fanden sie Ffifty Shades of Grey auf ihren Schreibtischen: ein Buch von grausiger Qualität, das aber trotzdem zu einem weltweiten Phänomen wurde. Darauf war eine Notiz: „Erklären Sie das!“
Und die Literaturwissenschaftler erklärten es: Denn bei all seiner Grausigkeit hatte Fifty Shades of Grey einen perfekten, „süchtig“ machenden Plot. Man kann also sehr viel davon lernen – für seinen eigenen, qualitativ hoffentlich besseren Roman.
Im ersten Teil der „Bestseller“-Reihe …
Im ersten Teil dieser Reihe ging es um eine bestsellertaugliche Themenwahl. Und wir sahen unter anderem, dass Sex die Bestsellerwahrscheinlichkeit eines Buches eher nach unten drückt.
Wie verträgt sich das also mit dem weltweiten Erfolg von Fifty Shades of Grey?
Nun, zunächst erstmal ist Sex bei genauer Betrachtung tatsächlich nur ein untergeordnetes Thema im Roman. Zumindest prozentual gesehen stehen
- das absolute Top-Thema menschliche Nähe,
- vertraute Gespräche und
- nonverbale Konversation
auf den ersten drei Plätzen. Dabei bilden Nähe und Intimität den zentralen Konflikt des Romans, weil Christian Grey in Bezug auf feste Beziehungen ein recht problematischer Herr ist.
Damit hat Fifty Shades of Grey trotz hohen Sex-Gehalts thematisch bereits sehr gute Bestseller-Voraussetzungen.
Und vom Plot her sind sie noch besser …
Ein „guter“ Roman: Kopf vs. Gefühl
Wenn es um die Beurteilung von Qualität geht, schauen viele Leser und Kritiker vorrangig auf den intellektuellen Wert von Romanen: Sie erwarten das Aufgreifen relevanter gesellschaftlicher Themen und virtuosen Sprachgebrauch.
Viele Bücher – vor allem solche, die sich gut verkaufen – brillieren aber auf der emotionalen Ebene.
Hier kann der Leser in ein völlig anderes Leben oder sogar eine andere Welt eintauchen. Er kann seinen alltäglichen Sorgen entfliehen und Gefühle durchleben, die ihm eventuell sonst fehlen. Viele solcher Romane bieten vielleicht nicht viel Intellektuelles, aber sie bieten Eskapismus. Und das ist es, was viele Leser von einem Buch erwarten.
Gefühlsrhythmus
Wie nimmt man seine Leser also emotional mit? Wie macht man sie „süchtig“ nach der Geschichte? Wie ist ein solcher Plot aufgebaut?
Worauf es laut Archer und Jockers ankommt, sind Wellen. Hier wie der Computer sie darstellt:
- Die x‑Achse dieses Koordinatensystems ist die erzählte Zeit: die Handlung vom Anfang bis zum Ende.
- Die y‑Achse ist die Stimmung. 0 ist dabei die unaufgeregte Stimmung des normalen Alltags, oberhalb der Nullinie sind die positiven Gefühle angesiedelt, unterhalb die negativen.
Zeichnet man also das Auf und Ab der Gefühle im Verlauf einer Geschichte ein, ergibt sich zum Beispiel folgender Graph:
Dieser Graph gehört zu Fifty Shades of Grey. Was die Forscher hier beobachteten, ist ein überdurchschnittlich regelmäßiger Rhythmus: Es gibt viele Berge und Täler, der Graph wechselt in regelmäßigen Abständen vom Positiven zum Negativen (und umgekehrt) und dieses stetige Ansteigen und Fallen ist sehr steil.
Tatsächlich beobachteten Archer und Jockers einen solch regelmäßigen Gefühlsrhythmus nur bei einem weiteren Roman: Sakrileg von Dan Brown – ebenfalls ein Bestseller unter Bestsellern.
Die sieben Handlungsgruppen
„Glättet“ man den Graphen von Fifty Shades of Grey ein wenig, wird eine klassische Drei-Akt-Struktur sichtbar:
- Exposition: Ana lernt Christian kennen, ist mit seinen sexuellen Vorlieben jedoch überfordert
→ die Stimmung nimmt ab - Konfrontation: Ana freundet sich mit Christians sexuellen Vorlieben allmählich an und findet Gefallen daran
→ die Stimmung nimmt zu - Auflösung: Ana kommt mit Christians Bedürfnissen doch nicht klar und verlässt ihn
→ die Stimmung versinkt im Keller
Archer und Jockers stellten bei der Analyse ihrer gesamten Stichprobe fest, dass es insgesamt sieben grundlegende Handlungsverläufe gibt:
- vom Schlechten zum Guten,
- vom Guten zum Schlechten,
- von einer glücklichen Wendung ins Unglück und dann wieder zu einer positiven Auflösung,
- von einer unglücklichen Wendung ins Glück und dann wieder ein Absturz,
- vom Guten zum Guten mit einem weiteren Höhepunkt in der Mitte und zwei Tiefpunkten dazwischen,
- vom Schlechten zum Schlechten mit einem Tiefpunkt in der Mitte und zwei Höhepunkten dazwischen und
- vom Guten zum Schlechten und dann wieder zum Guten.
So. Und welcher Handlungsverlauf ist jetzt der bestsellertauglichste?
Nun, die Wahrheit ist, dass sich in allen diesen Handlungsgruppen Bestseller finden.
Damit ist der grobe Handlungsverlauf für die Bestsellertauglichkeit eines Buches eher wenig relevant.
Worauf es vor allem ankommt, ist, dass die grobe Drei-Akt-Struktur deutlich ist und bei einem genaueren Blick ein regelmäßiger emotionaler Rhythmus rüberkommt. Und ein dermaßen regelmäßiges Auf und Ab der Gefühle wie bei Fifty Shades of Grey ist tatsächlich eher selten anzutreffen.
(Hinzu kommt noch, dass die Erzählperspektive in Fifty Shades of Grey perfekt gewählt ist, um den Fokus auf Anas Gefühlen zu halten. Mehr dazu in meiner Erzählanalyse des Romans.)
Eine Achterbahnfahrt
Wir halten also fest: Leser wollen weder ein „waagerechtes“ Vor-sich-hin-Tuckern der Handlung noch Geschichten mit zu viel Negativität oder Positivität. Ein idealer Plot ist ein regelmäßiges Auf und Ab, eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Steile Auf- und Abstiege sorgen nämlich dafür, dass Konflikte immer präsent bleiben und der Leser in ständiger Spannung gehalten wird.
Doch nun stellt sich eine letzte Frage:
Wie zeichnet man einen solchen Handlungsgraphen selbst?
Handlungsgraph selbst gemacht
Die von Archer und Jockers entwickelte Software ist nicht die Einzige, die Stimmung messen kann. Software für Sentiment Detection bzw. Sentimentanalysen kommt z.B. im Online-Marketing zum Einsatz, um unter anderem die Stimmung in den sozialen Medien zu messen. Manchmal findet man aber auch Tools, die statt einem Social-Media-Kanal oder einem Thema einen Text auswerten.
Meine Erfahrung zumindest mit kostenlosen Tools war jedoch eher ernüchternd:
- Erstens sind sie in der Regel englischsprachig und
- zweitens hat eines der Tools bei einer Szene, die ich dort eingegeben habe, etwas völlig Verkehrtes angezeigt:
In der besagten Szene entdeckte der Protagonist die Leiche seiner Geliebten – und das Tool hatte mir da 100% positive Stimmung angezeigt.
Aus diesen Gründen kann ich an dieser Stelle leider keine Empfehlungen geben. Wenn jemand von euch aber einen Tipp für ein gutes Tool hat: Bitte, bitte teilt den Link unten in den Kommentaren!
Kostenpflichtige Tools dürften verlässlichere Ergebnisse liefern, aber ich wollte bisher noch kein Geld ausgeben. Deswegen mache ich die Analysen meiner Geschichten von Hand und schätze die Stimmung Szene für Szene auf einer Skala von +100 bis ‑100 ein.
Natürlich ist auch diese Methode nicht sehr verlässlich, weil die Ergebnisse hier meiner Subjektivität ausgeliefert sind, aber zumindest ich selbst konnte damit bisher sehr gut arbeiten. So subjektiv meine eigenen Stimmungeindrücke auch sein mögen: Problematische Stellen im Graphen werden trotzdem sichtbar.
sehr informativer Artikel! Ich probiere es mal selbst für meine Romanidee aus
Vielen Dank fürs Lob und viel Erfolg mit der Romanidee!