Wir alle lieben spannende Erzählungen und oft versuchen wir auch selbst, spannend zu schreiben. Wolf Schmids erzähltheoretisches Konzept der Ereignishaftigkeit kann dabei sehr hilfreich sein. Es erklärt nicht nur, warum so manche Actionszene eher langweilig und ein so manches Gespräch unheimlich spannend ist. Man kann es auch verwenden, um seine eigene Geschichte spannend zu schreiben.
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Es gibt da so ein paar Phänomene, die bestimmt jeder kennt:
- Zum Beispiel liest man einen Roman, man schaut einen Film, eine Serie oder spielt ein Videospiel … und darin passiert etwas, aber man hat trotzdem das Gefühl, dass nichts passiert.
- Oder es gibt auch den umgekehrten Fall – nämlich, dass man sich von einer Geschichte nicht losreißen kann, weil ständig etwas passiert, das die Handlung auf den Kopf stellt.
Beide Phänomene haben zum Teil etwas mit der Ereignishaftigkeit zu tun. Um diesen Begriff jedoch zu definieren, müssen wir uns zunächst mit der Definition von „Erzählen“ beschäftigen. Diese Definition habe ich bereits in einem früheren Artikel gegeben:
Erzählen ist das Beschreiben einer Zustandsveränderung durch eine Erzählinstanz.
Dabei kann eine Zustandsveränderung alles Mögliche bedeuten: Dinge wie Toilettengänge, Wetterumschwünge und Niesen sind mit eingeschlossen.
Was uns aber interessiert, sind Zustandsveränderungen, die eine Bedeutung in der Erzählung haben: nämlich Ereignisse.
Was ist ein Ereignis?
Unter einem Ereignis versteht man einen besonderen, nicht alltäglichen Vorfall, also ein Abweichen von Gesetzmäßigkeiten - zumindest von den Gesetzmäßigkeiten innerhalb der narrativen Welt (der Welt, in der die Geschichte spielt).
In Bezug auf die Tatsache, dass ein Ereignis eine Zustandsveränderung ist, muss man sich vor allem merken:
„Jedes Ereignis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis.“
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2. Auflage von 2008, Kapitel: I.1. d) Ereignis und Ereignishaftigkeit.
Damit ein Ereignis wirklich als Ereignis gelten kann, müssen zwei Grundbedingungen erfüllt sein:
- Faktizität bzw. Realität: Das Ereignis muss in der narrativen Welt tatsächlich stattgefunden haben. Träume, Visionen und Wunschvorstellungen sind dadurch also von vornherein ausgeschlossen.
- Resultativität: Das Ereignis muss abgeschlossen werden. Am Ende des Textes ist es also nicht mehr „in Arbeit“ und auch nicht abgebrochen.
Diese Grundbedingungen kann man demonstrieren anhand von Breaking Dawn – Bis(s) zum Ende der Nacht – Teil 2:
Die finale Schlacht ist die Vision einer möglichen Zukunft. Unter anderem dadurch, dass der Feind erfährt, dass er die Schlacht verlieren wird, wird die Schlacht verhindert.
Damit ist die Vision an sich durchaus ein Ereignis. Aber alles, was in dieser Vision passiert (d.h. auch die dramatischen Tode mehrerer wichtiger Figuren), ist kein Ereignis.
Das bedeutet: Die finale Schlacht ist einfach nur eine Actionsequenz, in der de facto nichts passiert, weil nicht einmal die Grundbedingungen für ein Ereignis erfüllt sind.
Bei den Grundbedingungen muss man allerdings bedenken, dass sie allein kein Ereignis ausmachen. Das liegt daran, dass auch alltägliche Zustandsveränderungen die Grundbedingungen erfüllen können.
Zum Beispiel: Wenn eine Figur niest, dann kann dieses Niesen tatsächlich stattfinden (eine Figur macht wirklich hatschi!). Das Niesen kann auch abgeschlossen werden (der Rotz ist raus). Aber ansonsten wird ein Niesen in der Regel für den Rest der Geschichte völlig bedeutungslos sein.
Merkmale der Ereignishaftigkeit
Weil die Grundbedingungen also nicht ausreichend sind, um ein Ereignis zu einem Ereignis zu machen, schlägt Wolf Schmid (in Elemente der Narratologie) fünf Merkmale vor, die eine Zustandsveränderung tatsächlich zu einem Ereignis machen. Diese Merkmale sind unterschiedlich wichtig und können in unterschiedlichem Maß ausgeprägt sein. Das bedeutet, dass ein Ereignis mehr oder weniger ereignishaft sein kann als ein anderes.
Die vorgeschlagenen fünf Merkmale der Ereignishaftigkeit sind folgende:
- Relevanz (Hauptkriterium):
Je relevanter/wesentlicher die Zustandsveränderung für die Figuren, desto ereignishafter. - Imprädiktabilität (Hauptkriterium):
Je ungewöhnlicher/unerwarteter die Zustandsveränderung für die narrative Welt, desto ereignishafter. - Konsekutivität:
Je größer die Folgen der Zustandsveränderung, desto ereignishafter. - Irreversibilität:
Je geringer die Wahrscheinlichkeit, die Zustandsveränderung rückgängig zu machen, desto ereignishafter. - Non-Iterativität:
Je seltener sich die Zustandsveränderung wiederholt, desto ereignishafter.
Beispiele für hohe und niedrige Ereignishaftigkeit
Schauen wir uns nun die Ereignishaftigkeit in zwei Beispielen an:
Niedrige Ereignishaftigkeit: Matrix Reloaded
Während des langen Kampfes zwischen Neo und den Smith-Klonen passiert wenig Relevantes oder Folgenreiches. Die Kampfstunts sind zwar unterschiedlich, aber dass Stunt auf Stunt folgt, wird schnell repetitiv.
Die Begegnung an sich ist ein Ereignis: Es ist wichtig, dass Neo sieht, dass Smith sich vervielfältigt hat, und es ist auch wichtig, dass Smith ihn angreift. Die Minutenlange Kampfsequenz ist aber eher wenig ereignishaft und deswegen handlungstechnisch leer.
Hohe Ereignishaftigkeit: Death Note
Der Protagonist Light tötet Menschen, indem er ihre Namen in ein magisches Notizbuch schreibt. Der Privatdetektiv L verdächtigt ihn, Light weiß das und versucht deswegen, Ls richtigen Namen herauszufinden, um ihn töten zu können. L geht bei seinen Ermittlungen schließlich so weit, dass er sich Light persönlich vorstellt.
Diese Begegnung ist wichtig und hat Auswirkungen auf die komplette Geschichte. Dass L sich Light vorstellt, kommt unerwartet (außer für L selbst, der eine bestimmte Strategie damit verfolgt). Die Vorstellung kann nicht rückgängig gemacht werden und das Ereignis ist einzigartig.
Die hohe Ereignishaftigkeit ist einer der Gründe, warum ich persönlich Death Note als eine der spannendsten Geschichten betrachte, die ich kenne.
Schlussbemerkungen
So interessant die Ereignishaftigkeit auch ist, sie allein macht noch keine spannende Erzählung aus. Sie ist nur ein Faktor von vielen. Zum Beispiel: Selbst die ereignishafteste Handlung nützt gar nichts, wenn die Figuren langweilig sind und dem Leser egal ist, was mit ihnen passiert.
Es muss auch nicht jede Erzählung spannend sein. Ja, Spannung ist ein Qualitätsfaktor. – Aber nicht der einzige.
Dennoch kann Ereignishaftigkeit viele Empfindungen beim Rezipieren von Geschichten erklären. (Zum Beispiel, warum eine Actionszene einen langweilt oder warum man eine Szene, in der zwei Menschen miteinander reden, unheimlich spannend findet.) Und beim Schreiben können die von Wolf Schmid vorgeschlagenen Merkmale beim Aufbau einer spannenden Handlung hilfreich sein.